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"Bildungsgang" – Ein Aufschrei der Jugend gegen das deutsche Bildungssystem

PlayBildungsgang
Ein Aufschrei der Jugend gegen das deutsche Bildungssystem | Video verfügbar bis 07.05.2024 | Bild: Simon Marian Hoffmann

Es begann mit Plänen für Performances in der Öffentlichkeit, Workshops und einer Demo: 2017 haben sich Schüler und (sehr junge) ehemalige Schüler zusammengefunden, um ihrer Wut und Verzweiflung über die Erfahrungen im Schulbetrieb Ausdruck zu geben. Begleitet hat diese Aktionen der damals 20jährige Simon Marian Hoffmann mit der Kamera. Daraus wurde ein Dokumentarfilm, in dem die Jugendlichen zeigen und erzählen, was sie in der Schule erlebt haben und warum sie der Schulbetrieb nicht auf ein Leben vorbereitet. "ttt" hat den Regisseur des Films zum Interview getroffen.

Ein Film – wie ein 'Aufschrei der Jugend'

Der deutsche Schulbetrieb spuckt pro Jahr knapp 70.000 Schulabbrecher aus. Sind die alle "selber Schuld" oder hat das System eine Macke? Dieser Film ist so was wie ein 'Aufschrei der Jugend'. Eine Mischung aus Aufbruch, Wut – aber auch Trauer.

Osei-Tutu
Filmszene "Bildungsgang" mit Tracy Osei-Tutu | Bild: Simon Marian Hoffmann

"Ich habe mich durch mein Äußeres identifiziert, ich habe durch mein Äußeres irgendwie mich wertig gefühlt und so ging's mir in der Schule. Also Kontakt mit Menschen war für mich oberflächlich, Kontakt mit Lehrern war für mich oberflächlich, Gespräche waren für mich oberflächlich, die Themen angehen war für mich oberflächlich. Und ich habe in der Schule gelernt, ein Leben an der Oberfläche zu führen – und mehr nicht", erzählt Tracy Osei-Tutu. Auch Jola Drews hat den Eindruck, dass das Schulsystem gut vorbereitet, um effektiv im Kapitalismus mitzuspielen. Sie glaubt nicht, dass es das ist, was die Zukunft wirklich brauche.

Alles begann mit Protest, Demos und öffentlichen Performances

Hoffmann
Regisseur Simon Marian Hoffmann | Bild: Das Erste

Für den Film gab es keine Förderung, keine Profis, die das Projekt begleiteten. Am Anfang standen Protest, Demos, öffentliche Performances. Der damals 20jährige Simon Marian Hoffmann hat den Widerstand fünf Jahre mit der Kamera begleitet. Seit vier Wochen ist der heute 26jährige mit dem Film auf Preview-Tour durch fast 30 deutsche Städte. "Der Film ist eine Einladung an Eltern und an Lehrer, sich das Feedback von Schüler:innen anzuschauen und sich anzuschauen und mal hinzufühlen, was wollen die eigentlich und was haben die mir eigentlich zu sagen. Und für mich sind das teilweise auch erschreckende Bilder, die da kommen", erzählt Simon Marian Hoffmann.

Schüler visualisieren ihren Protest

Malina Bar-Lev
Filmszene mit Malina Bar-Lev  | Bild: Simon Marian Hoffmann

In einer öffentlichen Performance in Stuttgart zum Beispiel haben die Schüler, die Bilder, die ihnen zum Thema Schule im Kopf herumspuken visualisiert: Käfige, umwickelt mit Frischehaltefolie. Da wird etwas hergestellt und eingepackt für die spätere Verwendung. "Es war so eine krasse Stimmung und es ging nur um Schule sozusagen. Wie kann das denn sein, dass, wenn wir unsere echten Gefühle zur Schule ausdrücken als Schüler, dass es sich dann anfühlt wie ein Katastrophen-Szenario", so Malina Bar-Lev.

Vorgefertigte Bildungsinhalte werden passiv konsumiert

Bildungsdirektor der OECD, Andreas Schleicher
Bildungsdirektor der OECD, Andreas Schleicher | Bild: Das Erste

Wir haben den Bildungsdirektor der OECD, Andreas Schleicher gebeten, sich den Film anzusehen. Kürzlich verglich Schleicher den deutschen Schulbetrieb mit einem "Fast-Food-Restaurant". Vorgefertigte Bildungsinhalte werden passiv konsumiert. "Also der Film zeigt sehr klar, dass vielen jungen Menschen im Bildungssystem nicht das geboten wird, was sie für ihre eigene Zukunft suchen und brauchen. Wir haben ganz klar Schüler des 21. Jahrhunderts, die auch mit den Kompetenzen des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind. Die arbeiten mit Lehrkräften, die im 20. Jahrhundert gebildet wurden und in einem Schulsystem arbeiten, das irgendwo aus dem 19. Jahrhundert kommt", so Schleicher.

Es mangelt an Lehrkräften, Schulen und Schulplätzen

Mädchen
Filmszene mit kleinem Mädchen | Bild: Simon Marian Hoffmann

In Deutschland fehlen 40.000 Lehrer. Das Ansehen des Berufes ist ramponiert – dadurch fehlt Nachwuchs. Es mangelt an Schulen und Schulplätzen. Und das Bildungssystem hier spaltet: Mit 10 oder 12 Jahren werden die Kinder selektiert: Gymnasium oder Gesamtschule. Die Folge: Stress. Statt sozialem Miteinander lernen die Kinder eins: gnadenlose Konkurrenz. "In der Schule kommst du zusammen und du musst konkurrieren. Du konkurrierst um die Aufmerksamkeit von einem Lehrer mit 30 anderen jungen Menschen, das ist reiner Horror. Junge Menschen wachsen durch Aufmerksamkeit – und da entsteht immer dieses Gefühl von ... oh mein Bedürfnis wird nicht gedeckt und dann muss ich konsumieren, da muss ich's zustecken. Und dann hast du eine Konsum-Leistungs-Kapitalismus-Gesellschaft. So wie wir sie gerade haben, die die Welt an den Rand des Abgrunds bringt", erzählt Simon Marian Hoffmann. "Das macht einen schon traurig, wenn man viele junge Menschen sieht in diesem Film, die einfach ihre Zukunft in dem erkennen, was ihnen da jeden Tag angeboten wird. Die sich nicht wahrgenommen fühlen, die fühlen, dass sie da im Grunde nicht mitmachen und kein Mitspracherecht haben", so Bildungsdirektor der OECD, Andreas Schleicher.

Eine Forderung: Schluss mit Noten

Bildungsbrief
Schüler:innen fordern Bildungsbrief | Bild: Simon Marian Hoffmann

Der Film stellt Forderungen nach Alternativen: Schluss mit 800seitigen Curricula-Traktaten – Lehrplänen, nach denen alle unterschiedslos lernen müssen. Und Schluss mit Noten! Stattdessen fordern die Schüler einen Bildungsbrief, der von den Fähigkeiten und Stärken der Schüler erzählt. Sie fordern eine Schule, die sie auf die Welt-Krisen vorbereitet – und nicht "Massenhaltung", wie es im Film heißt. "Ich gehorche, ich lerne zu gehorchen. Ich bin dann ein junger Mensch, der dann quasi in ein Unternehmen kommt und einfach ausführen kann. Aber die Industrie und die ganze Gesellschaft braucht eigentlich solche Menschen nicht mehr. Da ist etwas, was die Maschinen in Zukunft machen können. Was wir brauchen, sind kreative, selbstbestimmte Menschen, die wohin kommen und die Fehler erkennen und direkt die Lösungen bringen", so Regisseur Simon Marian Hoffmann.

Autor: Ulf Kalkreuth

Stand: 07.05.2023 19:09 Uhr

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Rundfunk Berlin-Brandenburg
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