So., 24.05.20 | 23:05 Uhr
Das Erste
Mehr Licht! – Europa und der Süden
"Ich kann sagen, dass ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei", schrieb Goethe. "Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen."

Der Süden war stets unsere Sehnsucht. Mehr Licht! – Goethes letzte Worte waren unser Mantra. Einmal im Jahr für zwei, drei Wochen da hin. Später haben sich Heerscharen aufgemacht, um im Süden zu überwintern, gar ihren Alterssitz zu nehmen. So schön ist das. Wir haben uns dort breitgemacht. Nur, ganz klar: "Trauen kann man ihm nicht, dem Südländer. Mit Geld umgehen: nein!"
Plötzlich waren sie Schweine
Immerhin: Die Italiener waren von Anfang an dabei, beim verwegenen Projekt Europa. Jahrzehntelang europafreundlich. Auch die Spanier wurden hervorragende Europäer. Ministerpräsident González war ein Ziehsohn von Willy Brandt, geliebt aber auch von Helmut Kohl. Muss man erstmal hinbekommen. Große, überzeugte Europäer.

Und plötzlich – in der verheerenden Wirtschaftskrise des vergangenen Jahrzehnts, wurden Portugal-Italien-Griechenland-Spanien als PIGS-Staaten diffamiert. Als "Schweine". Was das mit den Menschen in diesen Ländern macht, war dem Norden Hekuba.
Einst lehrten sie uns die Philosophie
Nun, nachdem sie jahrelang zusammengestrichen und gespart haben, trifft es diese Länder im großen Pandemie-Elend erneut besonders arg. Natürlich helfen wir. Zögernd zwar und, gewiss, unter straffen Voraussetzungen. Wir verhandeln das etwas merkantil. Als solidarisch sich gerierende, strenge Lehrmeister. Europa müsste jetzt brüderlich sein, beweisen, dass wir mehr sind als eine Wirtschaftsunion. Das wir demokratisch sind. Nicht Populistisch. Solidarisch. Eine Einheit.

Ja! – "Einst lehrten sie uns die Philosophie, die Griechen. Heute leeren sie uns die Mülleimer." Dabei, was haben wir schon gelernt? Nun, ja: Alles! – Und ich rede nicht von Sokrates, der attischen Demokratie oder den Aquädukten. Sondern von dem, was wir heute mehrheitlich sein wollen und in unseren besseren Augenblicken schon mal sind. Beginnt beim Olivenöl und geht bis zu den Einsprengseln von Lockerheit. Die bei uns inzwischen mitunter enthaltenen Spurenelemente von Freundlichkeit und Stil. Leben können und lassen. Alles von den südlichen Nachbarn abgeschaut.
Warum sitzen die so lässig?
Wer daran zweifelt, möge sich erinnern. An Schule, Familie, die gesamte Gesellschaft: Enge, Mief und Finsternis. Wie ein psychiatrisches Gefängnis mutet heute der autoritäre Biedersinn an, der die Norm war. Man hole nur mal den sehr toten Heinrich Böll wieder raus. Den Jugendlichen wird in "Ansichten eines Clowns" permanent Kohl aufgetischt, weil der so "dämpft". Da war teigig-restaurative Borniertheit, mit verklemmt-aggressivem Aplomb zum Dogma erklärt.

Der Süden! "Tja-ha: Fiesta-Siesta – und sonst nix!" Und am Grund schlummerte der Neid. "Warum lachen die so viel? Warum sitzen die so... so lässig? Mit offenem Hemd? " Es ist doch so: Wir verdanken dem Süden sehr viel mehr, als wir ihm jemals werden zurückgeben können.
Wir sind Brüder
Nun – so scheint es – bewegt sich Europa. Doch genügt das? Sind da nur finanztechnische Formeln? Oder ist da mehr? Empathie? Die Zeit nach dem Virus könnte eine Stunde null sein. Das wäre es: Europa, diesen wunderbaren Kontinent, mit all seiner Pracht und seinem Ballast, noch einmal neu gründen.
Als ich 16 war, war ich in Rom. Tagsüber am Strand von Ostia. Abends mischten wir uns mit den Römern. Sangen gemeinsam das Lied der Partisanen. Bekanntlich geht es darin um Freiheit, Widerstand, um Tod. Um Solidarität. "Wir sind Brüder", einen rauschhaften Augenblick lang war ich gewiss. Es war: ein Traum.

BUCH-TIPP
Mario Testino: "Ciao", Taschen Verlag
Autor: Lars Friedrich
Stand: 24.05.2020 20:56 Uhr
Kommentare