So., 27.03.22 | 23:20 Uhr
Das Erste
Plastik – Die Welt neu denken
Am achten Tag schuf der Mensch ein Material, das das Universum nicht kannte. Und mit ihm einen neuen Planeten. Voll von wundervollen Dingen, wie der Moon Lamp von Gino Sarfatti. Dem Sputnik Jam Dish – Beginn einer neuen Ära auf dem Esstisch. Oder dem Toot-a-Loop-Radio, das man in der Frühphase des Plastozäns ums Handgelenk trug.
Mehr als acht Milliarden Tonnen Plastik

Das Träumen des Menschen vor dem Wuchern einer magischen Materie, so hat Roland Barthes das Schauspiel Plastik begeistert beschrieben. Wird es je wieder so viel unschuldigen Zukunftsoptimismus geben, wie in jener Zeit, als die Massen das Monsanto-Haus in Disneys Tomorrowland stürmten? Kunststoff, das hieß Demokratisierung des Konsums, erschwingliche Produkte für alle. So billig, dass man sie ohne Nachdenken wegwerfen konnte. Was dieses Foto übrigens feiert und nicht ironisiert.
Über acht Milliarden Tonnen hat die Menschheit bislang von diesem wunderbaren Stoff produziert. Je nach Zusammensetzung hält er mehrere hundert Jahre. Davon kippen wir pro Minute einen Müllwagen in die Ozeane. Dort versuchen die Träumer von heute die Utopie ihrer Vorfahren mit riesigen Netzkonstruktionen wieder einzufangen. Allein im Great Pacific Garbage Patch, einem Müllteppich dreimal so groß wie Frankreich, schwimmen 79.000 Tonnen Plastik. Die Organisation Ocean Cleanup holte dort letztes Jahr 29 Tonnen aus dem Wasser.
Wir brauchen mehr gutes Recyclingdesign!

Es gibt genug Wissenschaftler, die den Nutzen dieses Engagements bezweifeln. Und Kritiker, die fragen, ob das erste Produkt, das aus dem Plastikmüll recycelt wurde, unbedingt eine hippe Sonnenbrille sein musste. Kreiert vom renommierten Industriedesigner Yves Béhar. Natürlich lautet die Antwort: Wir brauchen viel mehr gutes Recyclingdesign!
Jedes Plastikmöbel sollte nach dem Prinzip des REX-Chairs von Ineke Hans hergestellt werden: Der besteht aus alten Fischereinetzen und funktioniert wie eine Pfandflasche. Der Hersteller nimmt jeden Stuhl nach Gebrauch zurück und zahlt 20 Euro an den Kunden. Je nach Zustand wird er nur aufgefrischt, oder geschreddert und neu verarbeitet. Oder der Stuhl kommt in eine Designsammlung. In vier Museen steht er schon.
Möbel aus Pilzmyzel

Vielleicht liegt die Zukunft des Kunststoffs auch bei den Mikroben, die Lebensmittelabfälle in plastikähnliches Granulat verwandeln. Aus dem produziert das britische Startup Shellworks kompostierbare Kosmetikverpackungen.
In anderen Laboren lässt man Pilzmyzel durch verschiedene Substrate wuchern. Was dabei herauskommt, ist ein Kunststoffersatz, mit dem sich von schrillen Möbeln bis zu Baustoffen einiges herstellen lässt. Die holländischen Designer Eric Klarenbeek und Maartje Dros haben diese Phase schon hinter sich und sind bei Algen angekommen. Aus deren Trockenmasse entsteht dann Geschirr. Es geht aber auch größer: Dros und Klarenbeek haben mit ihren Biopolymeren gerade einen Designklassiker nachgedruckt: Peter Ghyczys Senftenberger Ei.
Utopien gibt es auf dem Wertstoffhof
Noch ist das alles Graswurzelrevolution. Die dauert. Unterdessen kleistern wir die Welt mit immer mehr Plastikmüll zu. Es braucht wohl radikalere Konzepte. Dave Hakkens hat über die letzten Jahre in seinem Precious Plastic Projekt alle Maschinen zum Kunststoffrecycling für Laien konstruiert. Jeder darf sie nachbauen. Ziel ist eine weltweit vernetzte Community, die nichts lieber tut, als Plastik sammeln, trennen, schreddern und daraus neue Produkte zu basteln, die man selbst oder der Nachbar gerade so braucht. Wer heute nach Utopien sucht, wird am nächsten Wertstoffhof fündig.
AUSSTELLUNG
"Plastik. Die Welt neu denken", Vitra Design Museum, Weil am Rhein, bis 4. September 2022
Autor: Henning Biedermann
Stand: 27.03.2022 19:42 Uhr
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