So., 24.04.22 | 23:50 Uhr
Das Erste
Rumänischer Pavillon
Eine Lehre in Demut. Eine Feier der Menschlichkeit. Die Erfahrung, die wir hier machen, ist eine so intime, tiefgreifende, tiefgründige, dass wir sie kaum aushalten. Sensationell hier: Christian Bayerlein. Seit frühester Kindheit schwerst behindert.

"Ich denke im Großen und Ganzen bin ich ein ziemlich attraktiver Mann. Ich bin anders. Meine Schönheit entspricht nicht dem Mainstream oder der Norm. Aber Normen sind mir eh scheißegal. Ich habe eine gute Beziehung zu mir selbst. Ich bin im Reinen mit mir. Und mit meiner Behinderung: ich fühle mich nicht als krank oder leidend. Es gibt ja auch die Phrase: er leidet an seiner Behinderung, an der Krankheit. So fühle ich mich nicht. Aber viele behinderte Menschen fühlen sich auch nicht so. Sondern jeder hat irgendwelche Lebenssituationen, so wie sie sind. Können doch also sehr im Reinen sein und ein positives, gutes Leben führen."
"Wie ein Gehirn, das man herumträgt"
Er sagt, er fühle sich "wie ein Gehirn, das man herumträgt". Ein schier unglaublicher Mensch. Das radikale Experiment des Films wird auf der Biennale von Venedig fortgeschrieben – im Raum mehrdimensional ausgearbeitet. "Ich bin echt stolz auf meine Haare, weil sie nicht bloß Teil von mir sind, sondern auch ein Statement. Sie weist auf meinen Lebensstil hin, auf die Art, wie ich mein Leben lebe, auf die Freiheit, die ich spüren möchte."

Die Künstlerin und Filmemacherin Adina Pintilie ist begeistert von der Zusammenarbeit mit Christian Bayerlein. "Er war überwältigend. Er hat eine sehr spirituelle Präsenz, er sagt Dinge, die wirklich tief reichen. Ich denke er hat die Möglichkeit, so hat er mir das erklärt, dass er wahrscheinlich fähig ist Dinge so gut auszudrücken, gerade weil die unterschiedlichen Bedürfnisse seines Körpers es erforderlich gemacht haben, eine Sprache dafür zu finden. Es war nie leicht für ihn, darum zu bitten, was er braucht, zu sagen, was er fühlt, um Hilfe zu bitten. Er hat diese erstaunliche Fähigkeit allmählich entwickelt, eine Fähigkeit, die ich persönlich zum Beispiel nicht habe."
Er sollte nur zwei Jahr überleben, vielleicht fünf
"Meine Eltern haben damals, als wir nach Haus kamen, mit sechs Monaten, also 1975, von den Ärzten gesagt bekommen, ich würde nicht lange leben", sagt Christian Bayerlein. "Vielleicht zwei Jahre, vielleicht fünf Jahre, vielleicht 16 Jahre. Aber dementsprechend bin ich aufgewachsen mit dem Hintergrund, das Leben jeden Tag zu genießen wie es ist. Einfach mit dem Horizont: Es könnte jeden Tag zu Ende sein. Und das ist potentiell immer noch so. Aber eigentlich ist es für jeden Menschen so."

Es geht auch um eine Wiederentdeckung der Intimität, um eine Erforschung der Sprache des Körpers. Was wir hier sehen, konfrontiert uns: mit unseren Ängsten und Befürchtungen. Was sein könnte, was uns geschehen könnte. Eine performative Arbeit, voller Rituale, Gesten, Öffnungen zur Erkenntnis: vergiss die Scham, sagt diese Arbeit, lass das Gute geschehen, das dein Körper dir ermöglicht, wie immer er gestaltet ist.
Viele Leute haben ein Problem mit Intimität
"Es geschieht sehr häufig, dass unsere fest verankerten Ideen sehr unterschiedlich von der wirklichen Erfahrung unseres Fühlens sind", sagt Adina Pintilie. "Die Normen, wie wir sein sollen, stehen im Konflikt dazu, was wir sind. Und ich denke, von diesem grundlegenden Konflikt geht das Fragen aus, das Befragen unseres Selbst. Wie empfinde ich überhaupt – wie viel davon ist konditioniert und wie viel von unserem Fühlen ist frei? Wie viel bin ich, wie viel ist meine Mutter, meine Großmutter und die lange Linie der Frauen, von denen ich abstamme. Und wie viel meines freien Willens ist eine Illusion."

"Meine Erfahrung ist, dass viele Leute Probleme mit der Intimität haben", sagt Christian Bayerlein. "Mit ihrem eigenen Körper haben. Behinderung wird sowieso tabuisiert. In einer Gesellschaft, die sehr auf Optimierung setzt. Auf Selbstoptimierung: immer besser, immer schneller."
Vergiss die Scham!
Es eine sehr tröstliche Erfahrung, zu sehen und zu hören, wie Christian Bayerlein mit seiner Behinderung umgeht. "Und dann habe ich mich sehr auf einer intellektuellen und tiefen Ebene auseinandergesetzt. Habe mich in Kreisen bewegt mit Polyamorie, mit BDSM, einfach sexuell offenen Menschen. Und bin da in Begegnungen gegangen. Und habe darüber mich selber kennengelernt und habe meine Bedürfnisse kennengelernt, meinen Körper kennengelernt. Und habe mir gedacht: 'Hey, so unattraktiv wie du denkst, bist du gar nicht!' Und dann habe ich mir selbst erlaubt ein bisschen Macho zu sein. Weil das ja auch verpönt ist irgendwie."

Ein Werk als Prüfung des Innersten, der Seele. Eine Arbeit, die uns lange nachgehen wird, ein Werk das tiefer greift als die meisten, wie ein Pfeil der Erkenntnis, der uns trifft: sei aufrichtig, sei dankbar, sieh das Leben als Geschenk – vergiss die Scham, hab keine Angst. Mehr kann ein Kunstwerk nicht erreichen.
Stand: 27.04.2022 09:40 Uhr
Kommentare