So., 17.01.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
Menschlichkeit in Zeiten der Angst
Wie verhalten sich Menschen in Extremsituationen? Was bedeutet Leben im Kriegszustand? Woher schöpft man Hoffnung in einem nicht enden wollenden Konflikt?

"Mich interessieren die Orte, von denen eigentlich keine Informationen nach außen gelangen", sagt die Fotoreporterin Julia Leeb. "Die Orte, wo keine Journalisten reinkommen, wo keine Zeugen rauskommen. Und das wissen natürlich die Machthaber. Deswegen sind diese Orte abgeschottet. Deswegen reise ich sozusagen diesen Nicht-Bildern hinterher. Ich möchte diese Lücken füllen und ich möchte diese toten Winkel unserer Welt beleuchten."
Krankenhäuser werden bombardiert
Seit über zehn Jahren bereist Julia Leeb als Kriegsreporterin die dunkelsten Orte auf unserem Planeten. Allein, mit ihrer Kamera. Kongo. Nordkorea. Ägypten. Libyen. "Ich höre von einem Ort, zum Beispiel Sudan, die Nuba-Berge", sagt Leeb. "Ein Ort, der nicht zugänglich ist. Dann höre ich, dass ein Frachtflugzeug von Nairobi nach Südsudan nach Juba fährt und von dort aus ein Konvoi in den Sudan rein fährt. Das sind dann so Zufälle. Es sind Zeitfenster, die sich öffnen und dann werde ich aktiv und sitze auf einmal in der Cargo-Maschine."

2017 begleitet Julia Leeb einen Medizintransport in die Nuba-Berge. Sie will dort Dr. Tom Catena und seine Frau Nasima treffen. Sie sind die einzige ärztliche Versorgung für eine Million Menschen. Regelmäßig wird das Krankenhaus bombardiert.
Menschlichkeit ist Teil des Krieges
"Mein Ziel war es eigentlich auch, eine andere Seite vom Krieg zu zeigen, weil Krieg sehr männlich dominiert ist", sagt Leeb. "Es geht eigentlich nur um Truppenbewegungen, militärische Einsätze, Kollateralschäden. Aber wer kocht denn und wer unterrichtet und wer heilt und wer vergibt und wer liebt? Und diese Menschen, diese stillen Helden kommen nie zu Wort. Das ist eigentlich auch ein Teil von einem Krieg, der nie erzählt wird. Das ist die Menschlichkeit."

Kongo. 2015. Jede dritte Frau wird hier Opfer einer Vergewaltigung. Missbrauch ist Kriegswaffe. Julia Leeb trifft auf vergewaltigte Frauen. Und auf solche, die trotz unsagbarer Umstände helfen. "Mama Masika ist die Person, die mich am meisten beeindruckt hat in meinem gesamten Leben. Ich habe nie einen Menschen getroffen, der so ein schreckliches Schicksal erleiden musste. Und sie hat allen Grund zu hassen. Sie hat allen Grund, Waffen zu tragen und sich zu rächen. Und sie hat sich dagegen entschlossen. Sie hat ein Refugium geschaffen für tausende von Vergewaltigungsopfern, die teilweise schwanger waren von ihrer schrecklichen Erfahrung. Und sie hat sie überredet, diese Kinder zu bekommen. Und diese Kinder und diese Opfer haben ein Zuhause gehabt. Sie hat die Täter stigmatisiert und nicht die Opfer."
Als Teenager in die Militärdiktatur
In allen Krisengebieten sind es vor allem die Frauen, die Hoffnung geben. Wie Hortense, die mit Unterstützung einer deutschen Stiftung eine Schule in der ostkongolesischen Stadt Beni gegründet hat. Momente der Menschlichkeit inmitten von Wahnsinn. Sie habe keine Lust, ihre Vorurteile spazieren zu führen. Lieber fängt sie jedes Mal frisch an.

An die achtzig Länder hat Julia Leeb bereist. Angefangen schon als Teenager, mit Mutter und Schwester in der damaligen Militärdiktatur Myanmar. In Indien.
Aus drei Wochen wurden drei Jahre
Und dann: mit dem Rucksack durch Südamerika. "Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich Spanisch lernen möchte und dass ich in drei Wochen zurückkomme", sagt Leeb. "Das mit dem Spanisch lernen hat gestimmt. Aber aus den drei Wochen sind dann letztendlich sechs Jahre geworden."

Ihre Furchtlosigkeit schützt Julia Leeb nicht immer. 2011 ist sie in Libyen, als der Aufstand gegen Gaddafi zu einem Krieg wird. Auf dem Weg in die vermeintlich befreite Stadt Brega gerät sie mit ihren Begleitern unter Granatenbeschuss. Sie überlebt nur wie durch ein Wunder. Ihre Arbeit hat einen hohen Preis.
Was wäre die Alternative?
Ägypten, 2012. Arabischer Frühling. Julia Leeb berichtet vom Tahrir-Platz und wird wie andere weibliche Journalistinnen von einem Mob Männer verschleppt und misshandelt. Am nächsten Tag steht sie wieder auf dem Platz.
"Ja, es ist gefährlich, als Auslandsreporter tätig zu sein. Aber was ist die Alternative? Das Narrativ wär das Narrativ des Regimes", sagt Leeb. "Wir schauen zu, wie Machthaber Journalisten einsperren, zum Schweigen oder gleich um die Ecke bringen. Das sind alles Botschafter von unserer Welt, Botschafter dessen, was passiert. Wir können nicht in einer globalisierten Welt leben, ohne eine Ahnung zu haben, was im Nachbarland passiert."
BUCHTIPP
Julia Leeb: "Menschlichkeit in Zeiten der Angst", Suhrkamp Verlag
Autorin: Laura Beck
Stand: 17.01.2021 19:09 Uhr
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