So., 17.10.21 | 23:35 Uhr
Das Erste
Film über Kochstar Yotam Ottolenghi
Es ist kein Essen. Es ist: die Essenz der Dinge. Unsere Verbindung zum Guten, Schönen und Wahren der Welt. Yotam Ottolenghi ist Architekt einer Küche, die unsere Sehnsüchte feiert. Die, die wir kennen. Und die, die uns noch verborgen sind. "Essen bildet das Fundament unserer Kultur", sagt Yotam Ottolenghi. "Nicht nur, weil es uns ernährt, sondern weil wir mit ihm verbinden, was uns ausmacht. Mahlzeiten strukturieren unseren ganzen Tag."
Seine Gerichte sind Erinnerungen

Weltweit wird Ottolenghi verehrt. Fernseh-Interviews gibt er fast nie. Seltener Einblick in den Prozess: Gerichte entwickeln mit Neil, dem Küchenchef einer seiner sieben Londoner Restaurants. "Das wird ein neues Rinder-Carpaccio", stellt Neil seine neueste Kreation vor. "Ganz kräftig im Geschmack. Inspiriert von einem koreanischen Gericht. Ich habe hier Eigelb in Soyasauce. Und darauf kommt Daikon-Rettich, der ein bisschen in Sesamöl gebadet ist." – Sein Chef Ottolenghi probiert, schmeckt ab. "Köstlich! Ich glaube, ein bisschen Essig fehlt aber noch."
"Ich will Drama im Mund. Ich will, dass meine Rezepte ungewöhnlich sind", sagt Ottolenghi. Seine Gerichte sind Erinnerungen. Jerusalem. Die schnellen Schritte der Mutter auf dem Markt, in den Stunden vor dem Sabbat. Schweinefleisch, heimlich unter dem Tresen verkauft. Alles Essen beginnt bei Ottolenghi mit einer Idee. Dann stellt er ihr einen Kontrahenten gegenüber. Ab dann wird gerungen.
Wer hat den Hummus erfunden?

Er wächst als Kind deutsch-italienischer Einwanderer in Israel auf. Die Großmutter: beim Geheimdienst. Die Eltern: Akademiker. Er studiert Literatur. Jerusalem ist seine Heimat. Und die von Sami Tamimi, Palästinenser. Sie lernen sich in London kennen, schreiben zusammen Kochbücher. Über ihre Heimat, die offene Wunde. "Die Debatte um Urheberschaft, um kulturelle Aneignung und vor allem um Repräsentation sind mit voller Wucht in der Welt des Kochens angekommen", sagt Ottolenghi.
"Die Frage, ob Italiener oder Chinesen die Nudeln erfunden haben, tut niemandem weh. Aber: Die Frage, wer den Hummus erfunden hat, ist im Nahen Osten keine theoretische. Es ist eine Frage von Stolz, eine Frage von Identität. Die Palästinenser sind mit gutem Recht darüber verärgert, dass die ganze westliche Welt glaubt, Hummus sei ein rein israelisches Gericht."
"Wir fetischieren unser Essen"

Mit Anfang 20 verlässt Ottolenghi Israel, wird in England zunächst Patisserie-Chef. Der Dokumentarfilm "Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles" geht mit ihm zurück zu den Anfängen. Und begleitet ihn bei einem ungewöhnlichen Projekt. Für das New Yorker Metropolitan Museum reist er nach Versailles, um ein extravagantes Dessert-Menü im Stil von Louis Quatorze zu entwerfen. Es wird ein Spiel mit absolutistischer Dekadenz. "Für mich ist der Bezug zur Gegenwart ganz klar", sagt Ottolenghi. "Auch wir fetischisieren heute wieder unser Essen, stellen es aus und definieren uns dadurch."
Auf unserer Zunge begegnet der Körper der Welt. Erfährt sie, und teilt sich ihr mit. Brücke zwischen Innen und Außen. Lange, bevor wir sprechen, drücken wir uns durch sie aus. "Ich habe zwei Söhne: einen sechsjährigen und einen achtjährigen. Und gerade als sie noch kleiner waren, war Essen für sie ein zentrales Instrument, um Macht auszuüben. Die Macht der Zurückweisung. Essen abzulehnen ist eines der wenigen Machtinstrumente, die Kinder haben."
Essen und Sex

Am Essen zeigt sich, was den Menschen ausmacht. Verführung. Zurückhaltung. Lust. Entbehrung. Die Gefühle, mit denen wir der Welt gegenübertreten: hier sind sie. "Essen ist ein Spiegelbild unseres Selbst. Das andere ist Sex. Über diese beiden Urinstinkte verhandeln wir, wer wir sind. Wir laden sie auf: mit Werten, mit Schuld, mit der Idee von Freiheit – aber auch mit Scham. Ohne diese beiden Instinkte könnten wir nicht existieren. Ohne sie gäbe es keine Zivilisation."
Als Künstler will er nicht gesehen werden, sagt Ottolenghi. Und kreiert doch: Kunst, die im Moment ihrer Vollendung vergeht. Es bleibt im Gedächtnis: sein Essen. Eine Feier des Augenblicks.
FILMTIPP
"Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles", Regie: Laura Gabbert, ab 21.10. im Kino
BUCHTIPP
Ottolenghi Test Kitchen: "Shelf Love", 2021, Dorling Kindersley Verlag
Autorin: Ronja Mira Dittrich
Stand: 17.10.2021 17:51 Uhr
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