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"Wir lebten glücklich während des Krieges"

Der ukrainisch-amerikanische Dichter Ilya Kaminsky

PlayDichter Ilya Kaminsky
"Wir lebten glücklich während des Krieges"  | Video verfügbar bis 22.05.2023 | Bild: Das Erste

Wann wurde ein Dichter zuletzt mit solchen Superlativen bedacht? 2019 kürte die BBC ihn zu einem von zwölf Künstlern, die die Welt verändert haben: Ilya Kaminsky, 1977 in Odessa geboren, 1993 mit seiner Familie in die USA emigriert. In seinem Epos "Republik der Taubheit", das nun auf deutsch erscheint, erzählt er in Gedichten davon, wie Gewalt – und Liebe – unsere Welt formt: Von einer Stadt, die von Besatzern okkupiert wird, und von ihren Bewohnern, die den Aufstand wagen, in dem sie sich buchstäblich taub stellen. Stille als Akt des Widerstands: Ilya Kaminskys Buch ist eine große Parabel – vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine wirkt sie geradezu prophetisch. Doch zugleich ist es eine höchst persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie: Ilya Kaminsky ist schwerhörig, seit er mit 4 an Mumps erkrankte: "Für mich ist die Poesie eine Sprache der Bilder. Ich erzähle nicht, ich zeige."

Kaminsky beschreibt die Welt, wie sie ist

Schriftsteller Ilya Kaminsky
Schriftsteller Ilya Kaminsky | Bild: Das Erste

Es war einmal eine Stadt. Es war einmal ein Kind. Die Stadt wurde von Soldaten besetzt. Das Kind wurde erschossen. Der Horror des Krieges, beschrieben in einem Gedicht von Ilya Kaminsky: "Der Körper des Jungen liegt auf dem Asphalt wie eine Büroklammer", heißt es darin. Und dann, als müsse er sich korrigieren, als verbiete sich angesichts des Todes jede Metapher fährt er fort: "Der Körper des Jungen liegt auf dem Asphalt wie der Körper eines Jungen." Ilya Kaminsky beschreibt die Welt, wie sie ist. Und macht aus ihr dennoch Poesie. "Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe eines Schriftstellers ist, furchtbare Geschehnisse schön aussehen zu lassen. Wenn die Welt zerbricht, zerbrechen auch die Worte. Dann hilft es nicht mehr, sie zart zu beschreiben. Ein Dichter liebt die Welt, ich halte mich für einen glücklichen Dichter. Aber was bleibt einem übrig, wenn alles zusammenbricht? Dann musst du ehrlich sein", sagt Ilya Kaminsky.

Ilya Kaminskys "Republik der Taubheit"

"Republik der Taubheit" von Ilya Kaminsky
"Republik der Taubheit" von Ilya Kaminsky | Bild: Das Erste

15 Jahre hat er an diesem Buch geschrieben, 2019 erschien es in den USA – jetzt auf deutsch: Ilya Kaminskys "Republik der Taubheit" ist eine zeitlose Parabel von Krieg und Widerstand – und davon, wie Gewalt unsere Welt formt. Geboren wurde er 1977 in Odessa, in der Sowjetunion, als Kind einer jüdischen Familie. Als er 4 Jahre alt war, erkannte ein Arzt eine Mumpserkrankung nicht, und Ilya verlor fast vollständig sein Gehör. Von nun an musste er sich die Welt über ihre Bilder erschließen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, 1993, emigrierte seine Familie in die USA. Ein paar Monate später – Ilya war 16 – bekam er ein Hörgerät. Die Welt hatte jetzt einen Klang. "Mein Vater starb, bevor ich das Hörgerät bekam. Das heißt, ich konnte nie seine Stimme hören. Ich habe die Welt durch Bilder kennengelernt. Schreiben ist für mich etwas Visuelles: Ich sehe ein Kind Ball spielen und der Ball fliegt in ein Fenster und jemand schreit. Schon ist da ein Bild, das ich aufschreibe. Schriftsteller schreiben nicht, weil sie unbedingt die eine Geschichte erzählen wollen – denn was würden sie sonst tun, wenn die erzählt ist? Schriftsteller schreiben aus einem inneren Drang, einem Zwang. Sie haben Fragen, wie wir alle: Was ist Liebe? Warum sterben unsere Eltern? Wie verändert es uns, wenn wir unsere Kinder aufwachsen sehen?", so der Dichter.

Stille als Akt des Widerstands

Ich erzähle nicht, ich zeige, sagt Ilya Kaminsky. In der "Republik der Taubheit" rebellieren die Bewohner der Stadt gegen die Besatzer, in dem sie sich taub stellen. "Niemand kann euch hören", schleudern sie ihnen entgegen. Stille als Akt des Widerstands. Aber was ist das eigentlich – Stille? "Stille ist eine Erfindung der Hörenden. Stille existiert nicht für Menschen, die nicht hören können. Sie haben keine Vorstellung davon. Und auf der anderen Seite kann Stille auch die Stille zwischen zwei Liebenden sein, für die es kein tieferes Verstehen, keine größere Nähe gibt. Dafür braucht man keine Sprache", erzählt Ilya Kaminsky.

Ein Buch – wie eine Prophezeiung

Dichter Ilya Kaminsky
Dichter Ilya Kaminsky | Bild: Das Erste

"Was ist ein Mann, eine Frau, ein Kind?“, fragt Ilya Kaminsky in seinem Buch: "Eine Stille zwischen zwei Bombardements." In seiner von Tod und Terror heimgesuchten Stadt gibt es kleine Momente des Glücks: Ein Liebespaar. Ein Mann, der einem Hund ein Glas sonnenhelles Bier gibt. Ein Kind, das seinen Pyjama anziehen soll. "So viel, wofür es sich zu leben lohnt", schreibt Ilya Kaminsky. Selbst im Krieg. "Wir unterhalten uns in einem Moment, wo ein furchtbarer Krieg tobt. Aber zugleich heiraten dort Menschen – während dieses Krieges. In Kiew mussten Freunde von mir tagelang in U-Bahnstationen aushalten, während ihre Stadt bombardiert wurde. Sie haben sich da unten Gedichte vorgelesen und übersetzt. Ihre Kinder haben in diesem U-Bahnhof gespielt. Wenn wir Zeugnis ablegen wollen, vom Leben im Krieg, müssen wir diese Momente festhalten. Was wären wir sonst für Zeugen?", so Kaminsky.

Der Krieg beschäftigt ihn. Aber sein Buch handelt nicht vom Krieg in der Ukraine, auch wenn es sich nun wie eine Prophezeiung liest. Die Stadt, in der ein Junge auf offener Straße erschossen wird, kann überall sein. "Das Bild eines jungen Mannes, erschossen von Menschen in Uniform, kennt man nicht nur in der Ukraine. Sondern auch hier, in den USA. Das wollte ich zeigen – dass es dieses Bild in beiden Welten gibt. Denn wie jeder Emigrant oder Flüchtling bin ich jemand, der mit einem Bein in einem Land lebt, und mit dem anderen woanders", erzählt der Dichter.

Poesie – eine Rüstung aus Worten

Ilya Kaminsky in Atlanta
Ilya Kaminsky in Atlanta | Bild: Das Erste

Heimat ist, wo meine Frau lebt, sagt Ilya Kaminsky. Und das ist Atlanta, Georgia. Seine Gedichte haben ihn zu einem Star der amerikanischen Literatur gemacht. Doch so ein Ruhm hält immer nur 5 Minuten, winkt er ab: Und bis mein nächstes Buch erscheint, dauert es sicher noch 10 Jahre. Poesie braucht Zeit. Aber sie ist überall. "Poesie ist wie ein Zauber – du liest etwas und wenn es gut ist, wirst du es nie wieder vergessen. Du trägst es in dir, egal, wo du hingehst. Für jemanden wie mich, der mit wenig Gepäck aus der Ukraine nach Amerika gekommen ist, waren Gedichte ein Halt, den mir keiner nehmen konnte. Und was zu erzählen hatte ich auch gleich… Es ist eine Rüstung aus Worten", so der Schriftsteller.

Autor: Tim Evers

Stand: 22.05.2022 20:54 Uhr

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Rundfunk Berlin-Brandenburg
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