So., 01.06.25 | 23:35 Uhr
Das Erste
Dokfilm: "Der Helsinki-Effekt"
Arthur Francks Film über einen Sommer, der die Welt verändern sollte
Müssen wir mit einem wehmütigen "Es war einmal" beginnen? Es war einmal – eine Zeit, in der das Reden noch geholfen hat? Es war einmal – eine Zeit, in der Diplomatie die Welt vor Schlimmerem bewahrt hat? Es war einmal eine Zeit: Die vorbei ist? Geschichte?
Helsinki 1975: Ost und West treffen sich zur KSZE
Wir sind in Helsinki, 1975. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg treffen sich die Führer der europäischen Staaten aus Ost und West, den USA und Kanada. Lange her? Ja.
Dieser Film führt uns vor Augen, warum es sich dennoch lohnt, noch einmal hinzuschauen. "Ich war sehr skeptisch, ob diese Konferenz wirklich für einen Film taugt – und wovon wir eigentlich erzählen wollen. Irgendwann habe ich mal alle Bilder der ankommenden Staatsgäste in einen fünfminütigen Clip gepackt und an meinen Schnittmeister geschickt", erzählt Regisseur Arthur Franck.
"Irre, wie schön ein paar landende Flugzeuge sein können"

"Irre, wie schön ein paar landende Flugzeuge sein können. Diplomatie ist das Bedeutendste, was wir erfunden haben", habe ihm der Schnittmeister zurückgeschrieben, so Franck. "Und das hat mir die Augen geöffnet: All die Rituale, das Lächeln für die Kameras, die langweiligen Reden, diese ganze Inszenierung: Das sprach plötzlich zu mir. Es bekam eine Bedeutung."
Was damals geschah, hat die Welt verändert. Wenn auch anders, als beabsichtigt: Anfang der Siebziger Jahre ist die Welt geteilt. Zwei mit reichlich Atomwaffen hochgerüstete Blöcke stehen sich gegenüber. Seit ein paar Jahren bemühen sie sich um Verständigung. Leonid Breschnew, der Anführer des Ostblocks, drängt auf eine Konferenz, um endlich die Nachkriegsgrenzen festschreiben zu lassen – und mit dem Westen wirtschaftlich ins Geschäft zu kommen. Der Westen verlangt im Gegenzug mehr Freizügigkeit, die Aufnahme eines Menschenrechts-Kapitels.
Nuklearwaffen, Nahost, Gewichtsprobleme: Diplomatie als Beziehungsarbeit

Dann beginnt ein jahrelanges Tauziehen – Showdown in Helsinki. Regisseur Arthur Franck hat hunderte Stunden Archivmaterial gesichtet. Auf Basis von Protokollen rekonstruiert er auch die Gespräche abseits der Kameras: "Die lesen sich wie ein Film-Drehbuch", findet er. "Da sitzen Breschnew und Kissinger und reden über alles zwischen Himmel und Erde: Nuklearwaffen, Nahost, die Konferenz, ihre Gewichtsprobleme, die Ehefrauen. Es wird viel gelacht. Humor ist wichtig."
Zugleich sei Diplomatie harte Arbeit: "Man muss eine Verbindung herstellen, zu Menschen, die anders geprägt sind, aus einer anderen Welt kommen. Und wenn man zusammen lacht, sieht man das Menschliche in seinem Gegenüber."
Film mit KI-generierten Stimmen: Dialog mit der Geschichte
Die Stimmen, die wir hören, sind allerdings nicht echt. Sondern computer-generiert, KI macht's möglich. Der Regisseur simuliert so auch Telefongespräche zwischen seinen "Hauptfiguren" und sich. Darf man das? Regisseur Arthur Franck argumentiert: "Alles Gesagte, das von inhaltlicher Relevanz ist, ist verbürgt – da gibt es eine Quelle. Wenn er beispielsweise darüber spricht, wie wenig ihn diese Konferenz interessiert, und dass sie dort seinetwegen auch Suaheli sprechen könnten, ist das tatsächlich ein Zitat."
Mit solchen Kunstgriffen gelingt Franck ein spektakulär unterhaltsamer Film. Kein Frontalunterricht, sondern: ein Dialog mit der Geschichte, der den Komplexitäten nicht aus dem Weg geht: Die von Moskau geforderte Festschreibung der Nachkriegsgrenzen zum Beispiel hätte die deutsche Teilung zementiert. Das will der Westen verhindern – ein Kompromiss muss her: Grenzen, heißt es nun, dürfen nur im Einvernehmen verändert werden. Die Kunst der Diplomatie: Eine Formel zu finden, die alle zufrieden stellt.
"Breshnew dachte, er hätte gewonnen"

Am Ende unterschreiben sie, Schulter an Schulter. Breschnew ist zufrieden.
Er kriegt seine Grenzen und den Handel mit dem Westen. Den Passus zu den Menschenrechten glaubt er, ignorieren zu können. Doch die Geschichte wird zeigen, dass er sich irrt.
"Breschnews Fehler bestand darin, dass er nicht für möglich gehalten hat, dass Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen könnten. Dass es nicht immer darum geht, was die Mächtigen entscheiden. Sondern, dass Menschen sich einmischen, dass sie tatsächlich lesen, was ihre Anführer unterschreiben", erklärt Franck.
Vertrag über Sicherheit und Zusammenarbeit nach 672 Verhandlungstagen

Perestroika und den Fall des Eisernen Vorhangs, all das habe Breschnew nicht mehr erlebt, gibt Franck zu Bedenken: "Ich würde ihm zugutehalten, dass auch sonst niemand in diesem Saal damals all das für möglich gehalten hätte. Die allermeisten dachten, Breschnew hätte gewonnen."
Es war einmal der 1. August 1975. Nach 672 Verhandlungstagen steht die KSZE-Schlussakte. Helsinki lenkt die Geschichte in eine Richtung, die weder beabsichtigt noch absehbar war. Der Flügelschlag eines Schmetterlings. Der Helsinki-Effekt.
Diplomatie dauert. Aber haben wir was Besseres?
Kann uns das Hoffnung machen, in einer Gegenwart, wo Autokraten Diplomatie nur simulieren? Und selbsternannte "Dealmaker" sie durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen suchen? "Ich glaube wirklich, dass Diplomatie das Schönste ist, was wir Menschen je erfunden haben", sagt Franck. Was aber nicht heiße, dass wir jetzt nur eine Konferenz organisieren müssen, Hände schütteln mit Putin oder einem der anderen Problemfälle der Weltpolitik, und alles ist ok. Das wäre zu einfach."
Dennoch plädiert er dafür, nach Möglichkeiten zu suchen: "Wenn wir nur die Probleme sehen, werden wir zu Gefangenen der Gegenwart. Wir müssen den Blick weiten, auch in die Geschichte, und uns fragen, was sie uns zu sagen hat. Konflikte ähneln sich, Geschichte verläuft in Zyklen. Und vielleicht finden wir irgendwo darin eine Hoffnung."
Diplomatie dauert. Aber haben wir was Besseres?
Autor: Tim Evers
Stand: 01.06.2025 22:07 Uhr
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