So., 27.11.22 | 23:35 Uhr
Das Erste
Ken Burns: Der einflussreiche Dokumentarfilmer im Portrait
Ken Burns erzählt seine Dokumentarfilme wie Romane. Mit Anfängen von großer Wucht. "The Civil War" (1990) etwa beginnt so: "We have shared the incommunicable experience of war. We have felt we still feel the passion of life to its top." ("Wir haben eine Erfahrung des Kriegs geteilt, die sich nicht wiedergeben lässt. Wir haben gespürt, dass wir immer noch aufs Höchste die Leidenschaft des Lebens spüren.")
Das Publikum soll Fotos hören

"Fotografie ist die DNA meiner Arbeit", sagt Ken Burns. "Und so war ich schon immer daran interessiert, das Bild nicht auf Armlänge wegzuhalten, sondern es mit meinen energetischen Kameraauge zu erkunden. Du siehst dir das Foto nicht nur an, während du es filmst. Du hörst es dir an: klappert das Pferd über die Szene? Macht der Wagen Geräusche? Feuert die Kanone? Knackt der Schläger bei einem Baseballspiel? Jubelt die Menge? Du sollst Fotos hören."
Das Publikum soll sehen können, was geschehen ist
Schon in seiner Serie über den amerikanischen Bürgerkrieg (1990) nutzt er Musik, Geräusche und viele Fahrten in den Bildern, um die Fotografien zum Leben zu erwecken. Etwa Fotografien von den Schlachtfeldern. "Were these things real? Did I see those brave and noble countrymen of mine laid low and death and altering in their blood? Did I see our country laid waste and in ruins? Did I see soldiers marching the earth trembling and jarring beneath their measured tread?" ("Passierte dieses Grauen wirklich? Habe ich gesehen, wie meine tapferen und edlen Landsleute niedergestreckt wurden, getötet und in ihrem Blut verendeten? Habe ich unser Land verwüstet und in Trümmern gesehen? Habe ich gesehen, wie Soldaten im Gleichschritt zitternd über das Land marschierten?")
14 Millionen Menschen schalten den Fernseher ein

"Die Kritiker sagten, niemand würde sich so etwas ansehen", erinnert sich Ken Burns. "Die Aufmerksamkeitsspanne aller war auf das Geringste gesunken. Und niemand sei in der Lage, auf etwas zu achten, das eine Art aktives Engagement erforderte, Stimmen zu hören, den Fotos zuzuhören. Die Fotos anzusehen und dieses wichtigste Ereignis in der amerikanischen Geschichte zu verstehen. Aber genau das Gegenteil geschah."
Mit dem "Ken Burns Effekt", dem Lebendigmachen von Fotos durch Animieren, wurde "The Civil War" die erfolgreichste Serie im amerikanischen Fernsehen. 14 Millionen Zuschauer bei jeder Folge.
Acht Stunden über Muhammed Ali
Bei seinem Film über Muhammad Ali (2021) hatte Ken Burns hingegen eine anderen Ansatz: "Diese Idee, mit ihm zu tanzen, war uns wichtig. Es war ein Versuch, keine Erzählung über ihn zu legen, die diesen lebendigen Geist in irgendeiner Weise ersticken würde, sondern eine Erzählung zu finden, die es diesem Geist erlaubt, zu tanzen, genau das zu tun, was ihn im Ring so erfolgreich gemacht hat."
Es wurde eine achtstündige Choreographie daraus. Berühmte Momente werden sensationell montiert. Unbekannte Schätze gehoben. Auch hier: Ken Burns' Faszination für die Kraft der Sprache. "I've wrestled with alligators, I've tussled with a whale. I done handcuffed lightning. And put thunder in jail. You know I'm bad", sprechtsingt Muhammad Ali. ("Ich habe mit Alligatoren gerauft. Ich habe mit einem Wal gekämpft. Ich habe Blitz in Handschellen gesteckt. Und Donner ins Gefängnis.")
Er fotografiert, um sich zu trösten

1953 wird Ken Burns in Brooklyn geboren. Als Sohn einer Biotechnikerin und eines Kulturanthropologen. Seine Mutter liebt er über alles. "Meine Mutter erkrankte an Krebs, als ich zwei Jahre alt war und es gab keinen Moment in meiner Kindheit, in dem das Gespenst des bevorstehenden Todes nicht im Raum stand. Was bedeutet, dass ich keine Kindheit hatte. Und als sie starb, als ich 11, fast 12 Jahre alt war, war das ein traumatisches Ereignis."
Im Fotografieren, Festhalten, findet er Trost. Sein Vater vermittelt ihm die Leidenschaft, nimmt ihn mit in die Dunkelkammer. Die Mutter fehlt so sehr. "Ich habe mit meinem Schwiegervater, einem Psychologen, gesprochen und gesagt: 'Irgendwie versuche ich meine Mutter am Leben zu erhalten. Ich kann mich nicht an den Tag erinnern, an dem sie starb. Die Erinnerung nähert sich immer und entfernt sich dann.' Und er sagte: 'Ich wette, du pustest die Kerzen auf deiner Geburtstagstorte aus und wünscht dir sie wäre am Leben.' Und ich: 'Woher weißt du das?' Und er: 'Das ist das magische Denken eines 11-Jährigen. Schau doch mal, was du beruflich machst. Du erweckst die Toten.' Und das ist in gewisser Weise wahr."
Geschichte war nicht – sie ist
Sein Film über Vietnam beginnt mit einer Rückwärtsmontage. Mit Revisionismus hat das nichts zu tun. Sondern mit seiner tiefen Überzeugung, das Geschichte nicht war, sondern: ist. "Mich interessiert eine emotionale Archäologie. Nicht sentimental oder nostalgisch. Das sind die Feinde von allem Guten. Mich interessiert eine höhere emotionale Wahrheit."
Gerade hat Ken Burns seine dreiteilige Serie über das Verhalten der Amerikaner während des Holocaust veröffentlicht. Eine Anklage. "Die Amerikaner wissen nicht was für ein Land sie haben wollen", diagnostiziert darin der Historiker Peter Hayes. "Wir alle neigen dazu, uns die Vereinigten Staaten als dieses Land mit dem 'Statue of Liberty'-Gedicht 'Gib mir deine Müden, deine Armen' vorzustellen. Aber tatsächlich ist der Ausschluss von Menschen und ihre Abweisung so amerikanisch wie Apfelkuchen."
"Wir hätten leicht fünf- oder zehnmal so viele Menschen hereinlassen können und hätten die Gesamtsumme der getöteten Menschen, diese unbeschreibliche Zahl von sechs Millionen, erheblich verkleinern können", sagt Ken Burns.
"Die Geschichte reimt sich"
"Man sagt, Geschichte wiederholt sich. Das hat sie nie. Vielmehr erleben wir Echos, Gespenster, Reime. Mark Twain hat einmal gesagt: 'Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie reimt sich'. Und so gab es noch nie einen Film, an dem ich mitgearbeitet habe, der sich nicht reimt." Sein Dokumentarfilm über die USA und den Holocaust geht bis in die Gegenwart, behandelt heutigen Antisemitismus und Rassenhass in den USA. Ken Burns weiß, dass seine Warnungen gehört werden.
Seinen ersten langen Film machte Ken Burns über die Geschichte der "Brooklyn Bridge". Arbeitete fünfeinhalb Jahre daran. Im Vorfeld glaubte niemand an ihn. Aber der Film machte ihn 1981 berühmt.
Zynismus ist für ihn schlimmer als Angst
"Das Geheimnis eines glücklichen Lebens besteht darin, zuallererst anzuerkennen, dass keiner von uns lebend rauskommt, dass am Ende eine Tragödie steht. Und um einen Weg zu finden, damit Frieden zu schließen, gibt es sowohl ein unterschwelliges als auch ein oberflächliches Glück. Bei gleichzeitigem Wissen, dass der Wolf ständig vor der Tür steht."
"Zynismus", warnt Ken Burns, "ist Angst, ist schlimmer als Angst – es ist aktiver Rückzug." Er hat fantastische Filme gemacht und seine Verantwortung nie vergessen.
FILMTIPPS
"Ken Burns - Here and There", USA 2021, Regie: Dante Bellini, Hooligan Film Productions
"The U.S. and the Holocaust", USA 2022, Regie: Ken Burns / Lynn Novick / Sarah Botstein ARTE im Januar 2023
"Muhammad Ali", USA 202, Regie: Ken Burns / Sarah Burns / David McMahon
"The Vietnam War", USA 2017, Regie: Ken Burns / Lynn Novick
"The Civil War", USA 1990, Regie: Ken Burns
Autor: Andreas Krieger
Stand: 27.11.2022 19:35 Uhr
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