So., 22.05.22 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der Streit um Künstler und Kultur aus Russland
Wie Putins Angriffskrieg das kulturelle Klima vergiftet
Sollte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auch zu einer Neubewertung der russischen Kunst und Kultur führen? Sollen russische Künstler – lebende und bereits verstorbene – jetzt boykotiert werden? Mit dieser Frage muss sich derzeit auch der weltberühmte russische Theatermacher und Filmregisseur Kirill Serebrennikow beim Filmfestival in Cannes auseinandersetzen. Serebrennikow, ein erklärter Gegner Putins und seiner Politik, stand zuletzt unter Hausarrest in Russland – wegen angeblicher finanzieller Unregelmäßigkeiten in seinem international renommierten Gogol-Theater in Moskau. Im Vorfeld der Aufführung seines Films "Tschaikowskis Frau" beim Filmfestival in Cannes protestierten ukrainische Regisseure: Solange der Krieg andauere, sei keinerlei Zusammenarbeit, keinerlei Kommunikation akzeptabel, heißt es. Der nach Kriegsausbruch von Moskau nach Berlin emigrierte Publizist Michail Sygar fürchtet, dass durch diese Boykottaufrufe, Künstler, die bereits durch das Putin-Regime zensiert und verfolgt würden, erneut stigmatisiert werden. "ttt" hat Kirill Serebrennikow in Cannes und Michail Sygar in Berlin interviewt.
Putins Angriffskrieg überschattet das Filmfestival in Cannes

Cannes, die große Leichtigkeit ist zurück an der Croisette. Beinah alles wie vor der Pandemie auf dem Roten Teppich vor dem Festivalpalais, dem Grande Theatre Lumiére. Doch Putins Krieg in der Ukraine überschattet das Festival. Der Film Mariupolis 2 zeigt die letzten Bilder, die der Anfang April bei den Dreharbeiten getötete, litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius gedreht hat – um russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Zur Festivaleröffnung meldet sich auch der allgegenwärtige ukrainische Präsident zu Wort. Er fordert vom Kino, dass es Partei ergreife – wie einst Chaplin gegen Hitler.
Ukrainische Regisseure protestieren gegen Serebrennikows Wettbewerbsfilm

Kirill Serebrennikows Wettbewerbsfilm "Tschaikowskis Frau" thematisiert nur die Beziehung zwischen dem berühmten Komponisten und seiner Ehefrau. Und deutet an: Peter Tschaikowski war schwul. Ein Plot – nicht nach dem Geschmack von Putin. Doch gegen den weltweit gefeierten und in Putins Russland verfolgten Regisseur protestierten im Vorfeld Vertreter der ukrainischen Filmbranche: Aufruf zum Boykott russischer Kultur, vor allem des Kinos – denn das sei ein Instrument russischer Propaganda und eine Kriegswaffe. "Jeder Russe muss wissen, dass er nicht willkommen ist in der Welt, solange Putin diesen Krieg führt. Wenn sie sich nicht klar gegen den Krieg bekennen, tun sie nichts. Solange dieser Krieg andauert, ist keinerlei Zusammenarbeit, ist keinerlei Kommunikation mit Russen für uns akzeptabel", so Victoria Yarmoshchuk, Direktorin des Ukrainischen Filmverbands.
Ein Film über den Wert jedes menschlichen Lebens

Was hat sein Film damit zu tun? Serebrennikow erzählt vom Leiden der Antonia Miljukova, Tschaikowskis Frau. Sie liebt ihn, ihm ist sie lästig. "Was die Ukrainer uns vorwerfen stimmt nicht. Wir alle im Filmteam sind gegen den Krieg. Unser Film ist ein Film über den Wert jedes menschlichen Lebens – und schon deshalb ein Statement gegen den Krieg", erklärt Regisseur Kirill Serebrennikow.
Anzeichen eines Kulturkrieges?

Putins Kriegspropaganda und die Aufkündigung des Dialogs auch mit ausgewiesenen Putin-Kritikern, wie jetzt von den Ukrainern in Cannes gefordert: Darin sieht der nach Berlin emigrierte russische Publizist Michail Sygar die Anzeichen eines Kulturkrieges. Die durch Putin verfolgten Künstler würden so zum zweiten Mal zu Opfern. "Russische Kultur generell zu canceln, weil sie die Verantwortung für alles, was Putin verbrochen hat – das klingt für uns Russen im Exil eben auch ein wenig nationalistisch. Es ist etwas, das wir einerseits verstehen können, aber auch sehr verstörend finden", so der Publizist.
Kann die russische Kultur Russland vom Putinismus heilen?

Michail Sygar war Chefredakteur eines unabhängigen Fernsehsenders, sein 2015 veröffentlichtes Putin-Buch "Endspiel" gilt als Schlüsselwerk. Jetzt befürchtet er: Putins zunehmend totalitäres Regime profitiert am meisten davon, wenn man im Westen jetzt pauschal auch die Kultur-Dissidenten stigmatisiert. Für Sygar sind sie Russlands einzige Hoffnung. "Kirill Serebrennikow ist ein Symbol dieses freien Russlands, das sich gegen Putin erhebt. Ich sehe darin ein enormes Potential, das uns im Kampf um ein freies Russland helfen wird. Die russische Kultur kann Russland vom Putinismus heilen", meint Michail Sygar.
Bis es so weit ist, können Boykottaufrufe gegen weltoffene russische Künstler noch viel Schaden anrichten. Die Festivalverantwortlichen in Cannes luden offizielle russische Delegationen aus. Doch sie stehen zu Kirill Serebrennikow und seinem Film. "Ich weiß nicht, ob diese Cancel-Kultur uns allen irgendetwas Gutes bringen kann. Sie ist doch irgendwie die Verlängerung des Kriegs. Aber wir wollen den Krieg beenden. Und dann müssen wir auch den Kulturkrieg zwischen den Kulturschaffenden beenden, erst recht in dieser angespannten Weltlage", so Kirill Serebrennikow.

Den Boykott-Befürwortern aber reicht es nicht, Filmregisseure auszuschließen. "Wissen Sie, ich habe in meiner Bibliothek zuhause eine Menge russischer Bücher. Natürlich werde ich sie nicht verbrennen oder aussortieren. Aber im Moment möchte ich nicht mal ein Buch von Tolstoi öffnen", erzählt Andriy Khalpakchi, Direktor des Internationalen Filmfestivals in Kiew.
Das Filmfestival im Schatten des Krieges

Kann man die Dichter und Musiker, die Toten wie die Lebenden, kann man die Kultur Russlands kollektiv in Haftung nehmen für das, was Putin anrichtet? Auch zwei frühere Filme Kirill Serebrennikows liefen in Cannes – ohne ihn, denn er saß in Moskau in Hausarrest. Jetzt endlich ist er da: Gesehen, gehört, geehrt von den einen, an den Pranger gestellt von den anderen: Weil er Russe ist. "Ich habe gehört, irgendwo haben sie sogar ein Tschaikowski-Konzert gecancelt oder Musiker, die Tschaikowsky spielten. Das ist Wahnsinn. Aber, was soll man machen – so ist es", erklärt der Regisseur Serebrennikow.
Der Schein täuscht: So ziemlich nichts ist mehr normal – auch nicht in Cannes, beim Filmfestival im Schatten des Krieges.
Autor: Andreas Lueg
Stand: 23.05.2022 11:33 Uhr
Kommentare