So., 05.04.20 | 23:30 Uhr
Das Erste
Olaf Otto Becker – Chronist der Krise
Frühling in München. Und kein Mensch. Olaf Otto Becker fotografiert seit zwei Wochen seine Stadt. Sucht nach Spuren unseres Verschwindens. Aus einem Moment des Schocks heraus. "Wenn wir einen Unfall sehen oder auf eine Herdplatte langen, dann wissen wir sofort, wie wir zu reagieren haben", sagt Becker. "Aber in dieser Langsamkeit, wie sich dieser Veränderungsprozess zeigt, steckt auch die größte Gefahr. Wir reagieren viel zu spät. Vielleicht wie der Frosch in dem Wasserglas, das man allmählich immer heißer macht und der Frosch merkt gar nicht, dass das Wasser irgendwann zu heiß für ihn ist."

Paare. Passanten. Die Menschen, Beziehungen: zurückgeworfen auf das Wesentliche. Becker fotografiert ein Hochzeitspaar, das er vor dem Münchner Rathaus kennenlernt. "Wir leben hier in München", sagt die Braut. "Wir haben dieses Datum schon vor zwei Monaten bekommen und dürfen heute nur zu zweit heiraten. Aber das ist in Ordnung."

Eine ältere Frau schiebt in ihrem Rollator eine jüngere Frau vor sich her. "Normalerweise müsste das umgekehrt sein", sagt die Geschobene. "Mama sitzt normalerweise hier. Mama und ich, wir verbringen gerade Corona Quality Time. Wir sind einfach zusammen, was wir ja sonst kaum schaffen, weil wir ja keine Zeit haben, in dem normalen Stress und wir machen das Beste daraus." – "Ich habe den Krieg erlebt", sagt die ältere Frau. Und ihre Tochter ergänzt: "Mama hat den Krieg überlebt, alles mögliche gemacht im Leben. Unternehmen gegründet, drei Kinder groß gezogen. Jetzt muss sie mit 83 noch so was mitmachen."
Bilder, die wie Fenster zu dem Gesehenen wirken
Mit Bildern von Eisbergen ist Becker berühmt geworden. Er ist allein mit Schlauchboot an Grönlands Küste entlang gefahren. Hat das schmelzende Inlandeis fotografiert. Sein Thema: Wie der Mensch die Natur zerstört – etwa den Regenwald von Borneo. "Ich will vor Ort mit eigenen Augen sehen, was passiert. Für mich geht es darum Bilder nach Hause zu bringen, die ich in den Galerien und in den Museen ausstelle, die wie Fenster zu dem Gesehenen wirken."

Die Maximilianstraße, Münchens teuerste Einkaufsmeile. Ausstellen, Darstellen: obsolet geworden. Keine Bühne mehr für Insignien. Als gut gilt jetzt, wer sich nicht blicken lässt. Was ist ein Schaufenster ohne Betrachter? Es ist schön. Es ist sinnlos. Ein Fenster ins Nichts. "Es sieht aus, als würden sich die Luxusläden auf eine längere Auszeit einstellen. Vielleicht haben sie auch ihre Waren weggeräumt, weil sie Angst haben, dass während dieser Ausgangssperre Plünderungen stattfinden könnten."

Becker ist täglich unterwegs. Bis zu zwölf Stunden, 20 Kilometer zu Fuß. Plötzlich ist da Hilfe. Ein Gabenzaun. Spenden in Plastiktüten. Essen, Kleidung, Waschsachen für die Wohnungslosen und Armen. Becker trifft einen Mann, der jetzt auf diese Hilfe angewiesen ist. Was er am Körper trägt, hat er sich vom Zaun geholt. "Jede Stunde kommen mehr Sachen dazu", freut sich der Mann und zeigt auf seine Kleidung. "Ich habe das alles von hier." – "Bleiben Sie gesund!", wünscht ihm Becker. "Ja, ich muss. Wenn man eine Familie hat, dann muss man vor seinem Kind stark bleiben."
Becker: "Wir wollen den Schmerz noch nicht richtig begreifen"

"Diese Katastrophe hat eine große Dimension", sagt Becker. "Ich glaube, wir sind alle noch in diesem Adrenalinstau, so dass wir den Schmerz noch nicht richtig begreifen wollen. Momentan fühlen wir, dass wir alle gemeinsam in einer Krise stecken. Aber wir werden irgendwann feststellen, dass es doch Unterschiede gibt. Und wenn man alleine ist und feststellt ..." Becker beginnt zu weinen. "Es wird sicherlich viele doch so erwischen, dass der Staat auch Grenzen hat zu helfen. Ich denke, die Solidarität der Leute ist schon sehr wichtig."
Der Schmerz treibt ihn, den Chronisten der Krise, durch die Stadt. Es ist Frühling. Kein Anfang in Sicht.
Autor: Andreas Krieger
Die Bücher von Olaf Otto Becker (alle bei Hatje Cantz)
Ausstellungen von Olaf Otto Becker
- "Change" – Hartmann Projects / Galerienhaus Stuttgart (wegen Corona-Krise derzeit noch geschlossen)
- "The Blue Planet" – H2, Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast Augsburg (wegen Corona-Krise derzeit noch geschlossen)
- "München in Zeiten von Corona" – Online-Ausstellung des Münchner Stadtmuseums
Stand: 05.04.2020 19:26 Uhr
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