So., 11.12.22 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der Hype um die Brettspiele
Warum der Mensch spielen muss
Der nächste Zug, er könnte der letzte sein. Sieg oder Niederlage? Warum spielt der Mensch? "Spielen ist ein Urphänomen des Lebens, denn im Spiel lernen wir, die Welt zu verstehen, im wahrsten Sinne begreifen wir sie", sagt Spielforscher Jens Junge. Die Leiterin des Spielzeugmuseums Nürnberg, Karin Falkenberg, sieht das ähnlich: "Wir brauchen diesen spielerischen Moment, der ist in uns angelegt. Wir sind spielende Wesen. Wir spielen von der Wiege bis zur Bahre. Wir spielen unser ganzes Leben lang, auch wenn wir behaupten: Ja, das ist doch Kinderkram. Stimmt nicht, ist falsch."
Im Brettspiel entsteht aus dem scheinbaren Chaos des Lebens eine Ordnung. Rahmen, Regeln, wir analysieren, wägen ab, wir testen unser Glück. Lassen uns fallen in eine andere Welt. Das Brettspiel gibt uns einen gestalteten Raum, in dem wir entscheiden: Wem schließen wir uns an? Gegen wen kämpfen wir? Wie gestalten wir diese Spielwelt? Und was nehmen wir daraus mit?
Spiegel menschlicher Konflikte und Sehnsüchte
Für Junge ist klar: "Brettspiele sagen immer etwas Grundsätzliches zur Gesellschaft, sie sind ja Abbild der Gesellschaft und wir haben ganz viele Momente in unserem Leben, wo wir mit Konflikten zu tun haben, wo wir Menschen entweder einen Identitätskonflikt haben, wo wir einen Machtkonflikt haben. Spielen schafft dann genau diesen Raum außerhalb der Wirklichkeit, in dem ich mich ausprobieren kann, in dem ich trainieren kann und in dem ich ja auch eine andere Erfahrungswelt habe."
Brettspiele können ein Abbild unserer Zeit sein – aber auch unserer Wünsche und Träume. Welche tiefen und versteckten Sehnsüchte in vermeintlich einfachen Spielen stecken können, zeigt eines der in Deutschland beliebtesten Spiele "Mensch Ärgere Dich nicht."
Der Spielforscher klärt über die Wurzeln des Klassikers auf: "Historisch kommt dieses Spiel aus Indien. Der Ursprung ist das Pachisi, das dort gespielt wird, und es ist eben aus dem religiösen Hintergrund dort entstanden, dass man zeigen will, dass das Leben eigentlich Leid ist, dass man Nackenschläge bekommt, dass man stirbt und wiedergeboren wird, dass man dann immer wieder von vorne losrennt. Und das Spielziel ist es, in einem schmerzfreien Nirwana anzukommen, die Glückseligkeit dort zu erreichen."
Die deutsche Version "Mensch Ärgere Dich Nicht" wird dann auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges populär. "Deshalb war der deutsche Herr Schmidt sehr erfolgreich, weil er 3000 von diesen "Mensch ärgere dich nicht"-Spielen, die er hat produzieren lassen, an die verletzten Soldaten im Ersten Weltkrieg 1914 an die Lazarette geschickt hat“, erklärt Junge. "Und natürlich hatten diese Menschen dort in den Lazaretten, nachdem sie das Elend an der Front erlebt haben, nichts Besseres im Kopf, als eigentlich gerne nach Hause kommen zu wollen. Und genau das lieferte dieses Spiel, diese Hoffnung und diese Vision, in ein schmerzfreies, heiles Nachhause zu kommen."
Krisen spielerisch verarbeiten
Raus aus der Realität des Krieges wollte man damals. Heute gibt es Spiele wie "This War of mine". Es führt mitten hinein in eine Kriegswelt. Und versetzt uns in die Lage von Zivilist:innen, die versuchen in Trümmern zu überleben, indem sie auf nächtliche Raubzüge gehen. Es geht um das Sichern der eigenen Existenz, die wir im Spiel über die der anderen stellen müssen. Immer mehr verstricken wir uns in Spiralen der Gewalt – um zu gewinnen. Nur im Spiel gibt es keine moralischen Tabus, nur im Spiel sind wir so frei.
In "Scythe" (englisch für "Sense") befinden wir uns in einem fiktiven Osteuropa-Konflikt der 1920er Jahre. Wir sind die Machthaber. Wir versuchen Regionen einzunehmen und zu behalten. Gewalt anwenden ist möglich, bringt aber Nachteile, vielleicht reicht ja auch einfach Abschreckung durch Aufrüstung. Ein Spiel, das man heute nicht mehr spielen kann, ohne an den russischen Angriffskrieg zu denken.
Andere Spiele sind der Realität voraus: "Pandemic Legacy" erschien 2016 und erzählt die Geschichte, wie Viren die Menschheit bedrohen. Die Spieler müssen Heilmittel entwickeln, sie kommen alleine nicht weiter, müssen kooperativ zusammenwirken, den Blick auf die ganze Welt richten.
Spiele als Motor kollektiven Bewusstseins
"Die Menschen am Tisch arbeiten plötzlich gemeinsam, um eben dann ein Problem auch im Spiel zu lösen. Das ist dieser kooperative Spielansatz und das zeigt ja eben auch, wie wir in der realen Welt vorankommen können, dass wir uns aufeinander einstellen müssen", resümiert Jens Junge. "Wenn wir doch eben nicht alles allein überblicken, brauchen wir die Perspektiven der anderen Menschen und schon finden wir eine bessere Lösung für das Ganze."
Gesellschaftsspiele: Man kann damit die Welt retten – oder einfach nur den Abend.
Beitrag: Alisa Schmitz/Davide Di Dio
Stand: 11.12.2022 19:06 Uhr
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