So., 28.08.22 | 23:45 Uhr
Das Erste
Wieso glauben Sie, dass Sie recht haben?
Die Illusion der Vernunft
Die Erde ist eine Scheibe – daran glauben sogenannte "Flat-Earther" felsenfest. Belegbar falsch. Aber für Mike Hughes, einen Stuntman aus Kalifornien: alles Lüge. Vor zwei Jahren schoss er sich mit einer Selfmade-Rakete in den Himmel, um die Wissenschaft zu widerlegen – und starb im Dienste des Irrsinns. Aber wie entstehen solche Überzeugungen und andere absurde Verschwörungstheorien, gegen alle Fakten?
Der Neurowissenschaftler und Psychiater Philipp Sterzer hat ein Buch geschrieben: "Die Illusion der Vernunft". Er legt dar, wie unser Weltbild im Kopf entsteht und dass wir eigentlich alle ziemlich irrational sind. "Also, ich würde nicht sagen, dass die Vernunft ausgespielt hat," so Sterzer. "Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich brauchen wir zurzeit die Vernunft und das rationale Argumentieren mehr denn je."
Hat die Vernunft ausgespielt?
Kaum ein Thema, das gerade nicht von wilden Verschwörungstheorien eskortiert wird. Der Klimawandel? eine Erfindung von Politikern, um uns zu manipulieren. Die Abwahl Donald Trumps? Betrug und ein Putsch des Establishments. Die Türme des World Trade Centers? vom amerikanischen Geheimdienst selbst gesprengt. Und die Mondlandung fand bekanntlich in den Studios von Hollywood statt. An Verschwörungstheorien wie diese glaubt die Hälfte aller Amerikaner und ein Drittel der Deutschen, schreibt Sterzer in seinem Buch. Je absurder eine Theorie, um so attraktiver?
"Warum Verschwörungstheorien häufig so absurde Inhalte haben? Eine Erklärung dafür ist, dass sie auch eine soziale Funktion haben," erklärt er. "Wenn ich jetzt das Gefühl habe, mit einem bestimmten Glauben an eine bestimmte Theorie gehöre ich einer ganz exquisiten, exklusiven Minderheit an, die über ein bestimmtes Wissen verfügt. Dann hat das natürlich einen aufwertenden Charakter für mich selbst. Und es liegt auf der Hand, dass je abstruser und absonderlicher die Theorie ist, desto exklusiver wird dieser Club sein, dem ich mich da zugehörig fühle."
Warum glauben alle Menschen, dass sie recht haben?
Als vor zwei Jahren die Coronapandemie ausbrach, war das auch ein einzigartiger Ausbruch von Verschwörungstheorien. "Das chinesische Virus aus dem Labor." "Bill Gates, der die Menschheit chippen will." "Die Impf-Lüge und die Maskendiktatur." Eine Gesellschaft im Wahnzustand. Und ideales Anschauungsmaterial für die Frage: Warum glauben alle Menschen, dass sie recht haben?
"Ich würde davor warnen, alles zu pathologisieren. Ich denke, es ist ein Teil unseres Denkens. Ein Teil dessen, wie wir unsere Überzeugungen ausprägen, unsere Überzeugungen über die Wirklichkeit," so Sterzer. "Dass es nicht immer so rational abläuft, wie wir uns das vielleicht vorstellen. Ich argumentiere, wir unterliegen da einer Art Rationalitätsillusion. Das heißt, dass wir mit unserer eigenen Irrationalität einen Umgang finden müssen."
Umdenken fällt schwer

Sterzer ist Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Universität Basel. Er forscht seit langer Zeit zu den Themen Schizophrenie und Wahn. Für sein Buch hat er zahllose Studien herangezogen, die beschreiben, dass unser Gehirn eher nicht rational arbeitet. Jeder konstruiert im Kopf sein eigenes Bild von der Welt. Dabei glauben wir lieber Menschen und Fakten, die unsere Meinung bestätigen. Umdenken fällt schwer.
"Wenn Sie mich jetzt versuchen, von einer Überzeugung abzubringen durch bestimmte Daten oder Fakten, dann gibt es ein gewisses Risiko, dass ich meine Überzeugung erst recht noch verfestigt. Ganz wichtig ist dabei aber, dass dieses Risiko vor allem dann besteht, wenn ich Ihnen nicht vertraue," sagt er. "Das kann entstehen, wenn Sie sehr belehrend auftreten, wenn Sie sogar herablassend auftreten. Grundsätzlich ist es aber nicht so, dass es nicht völlig sinnlos ist, mit Daten und Fakten zu argumentieren."
"Die Evolution hat uns zu irrationalen Wesen geformt"
Neue Fakten ignorieren wir erstmal gern. Das macht evolutionär Sinn, denn feste Überzeugungen geben uns Sicherheit. Andrerseits verlangt Gesellschaft Austausch und Anerkennung des Anderen. Niemand kann den blinden Fleck in seinen Überzeugungen wahrnehmen. Aber jeder kann wissen, dass es ihn gibt.
"Die Evolution hat uns quasi zu so irrationalen Wesen geformt und deswegen kann man daran nichts ändern. Aber ich denke, wenn wir immer wieder versuchen, uns vor Augen zu führen, wie eigentlich unsere Überzeugungen über die Realität zustande kommen, welche Funktion sie auch haben und wie irrational sie häufig zustande kommen, dann ist das ein ganz wichtiger erster Schritt, der uns auch dabei hilft, eben auf andere zuzugehen und nicht eisern an unseren Überzeugungen festzuhalten," erklärt er. "Was nicht immer der beste Weg ist, wenn es darum geht, gemeinsame Lösungen zu finden in einer pluralen Gesellschaft."
Andere von einer Überzeugung abzubringen mit Daten und Fakten birgt das Risiko, verfestigte Meinungen eher noch zu zementieren. Sterzer plädiert trotzdem dafür, es immer wieder aufs Neue mit Vernunft zu versuchen.
(Beitrag: Rayk Wieland)
Stand: 28.08.2022 18:45 Uhr
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