So., 01.06.25 | 23:35 Uhr
Das Erste
Neue Biografie zum 150. Geburtstag von Thomas Mann
Wegweisende Intimitäten?
Ein elegant gekleideter, leicht skurril wirkender Herr, selbstvergessen, in idyllischer Natur – von Thomas Mann gibt es zahllose Bilder. Seine Karriere zum bedeutendsten deutschen Dichter des letzten Jahrhunderts verlief parallel zum Siegeszug von Fotografie und Film.
Der Anzug sitzt schon in frühen Jahren perfekt. Wir kennen ihn als Familienoberhaupt, als entrückten Poeten, als gefeierten Dichterfürsten. Manchmal etwas verrückt. Nie zu verrückt. Ein Leben in vielen Gesichtern – nur welches ist seins? Bald 50 Biografien versuchen das zu ergründen. Jetzt, zum 150. Geburtstag, gibt es einen neuen Anlauf.
Tief eingetaucht in bisher unveröffentlichte Quellen

Tilmann Lahme, Verfasser auflagenstarker Bücher zur Geschichte der berühmten Familie, präsentiert in seiner neuen Biografie unveröffentlichte Quellen: zurückgehaltene Briefe und Tagebuchnotizen. Seine Neugier darauf erklärt er so: "Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit der Familie Mann. Und mir ist aufgefallen, wie wenig stimmig all diese selbst inszenierten Geschichten sind. Die, die er erzählt über sein Leben, und vor allem diese autobiografischen Texte, aber auch all das, was seine Familie so verbreitet hat. Das war der Impuls für mich, noch mal genauer nachzuschauen."
Dabei sei er sofort über Dinge gestolpert, die bestätigten:"Dass der Thomas Mann, wie wir ihn uns vorstellen, einfach der Falsche ist." Als 1975 die Tagebücher veröffentlicht wurden, hieß es: Nun sei er endlich da, der ganze Thomas Mann. Nach Lahme schlicht eine Irrführung mit Konsequenzen. Denn was hier zurückgehalten wurde, betrifft den Kern von Thomas Manns Persönlichkeit.
Großbürgerliche Fassade mit Frau und sechs Kindern
Im Zentrum von Tilman Lahmes Deutung steht Thomas Manns Sexualität. Die bisherige biografische Forschung habe Manns homosexuelle Neigung als "vorpubertäre Gefühlsschwankung" abgetan, so der Literaturhistoriker. Danach hätte er eine glückliche Ehe geführt, wäre mit seinen sechs Kindern ein Familienmensch gewesen. Lahme stellt fest: "In Wirklichkeit ist Thomas Mann ein früher Homosexueller des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der meint – so wie die medizinische Wissenschaft der Zeit: 'Ich darf das nicht. Das ist eine degenerative Hirnerkrankung und ich muss das loswerden.' Diesen Weg geht er ganz entschlossen, unter großem Leid. Wir können uns nur vorstellen, was das für ein Leben ist."
"Das Geschlechtliche – ein entsetzliches Kreuz"
Als Homosexueller, weiß Thomas Mann, wird er im Kaiserreich keine Karriere machen. Nach Paragraf 175 folgt auf Sex mit Männern Gefängnis und die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte. Thomas Mann unternimmt alles, um den Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die Ehe mit Katia, Rollenspiele als Familienvater, sechs Kinder. "Das Geschlechtliche – ein entsetzliches Kreuz", notiert er, "ein boshaftes Element". Die von Tilmann Lahme exhumierten Tagebuchstellen melden "autoerotische Handlungen", "Sex. Attacken", "phallische Begierden". Sollen wir das lesen? Müssen wir das wissen, um Person und Werk besser zu verstehen?

Tilmann Lahme hat gute Argumente dafür, unter anderem den "literarischen Magier" und "Zauberer" selbst, der seiner Nachwelt offenbar mehr zutraute und zumutete, als sie wahrhaben wollte: "Er wollte, dass die Welt nach seinem Tod ganz genau erfährt, was mit ihm los war. Es ist ja nicht so, als würden wir gegen seinen Willen auf diese intimen Äußerungen gucken."
In einem Tagebuchauszug heißt es: "Es kenne mich die Welt nicht nur in dem, was ich als Literarisches geleistet habe, sondern in meinem Leid und in meinem Kampf."
Literatur als Sublimierung: Der Liebende, der nicht lieben darf
Homosexualität als Grundtatsache dieses Werks: Was er im Leben sich versagt, versucht er literarisch zu bändigen. Keineswegs nur in der Novelle "Tod in Venedig", verfilmt von Luchino Visconti. Warum die Liebe bei Thomas Mann in Tragik, Untergang und Tod mündet – Tilmann Lahme bringt es in seinem exzellenten Buch auf den biografischen Punkt: Ein Liebender, der nicht lieben darf. Thomas Manns schwer errungene und penibel inszenierte Bürgerlichkeit, sie bleibt zeitlebens eine Gratwanderung.
Mann, die Demokratie und seine Beziehung zur Vaterstadt Lübeck

Wo alles begann, in Lübeck, gibt es eine Ausstellung zu seinem 150. Geburtstag am 6. Juni: "Thomas Mann und die Demokratie" lautet der Titel. So sehr er im Alter für sie wirbt, so sehr verabscheut er die Republik in der Jugend. Die "Betrachtungen eines Unpolitischen" feiern Militarismus und Monarchie als tieferes, männlicheres Deutschtum.
Dass er im Krieg aus dem Exil Verständnis für die Bomben auf Lübeck äußert, hat ihm seine Vaterstadt bis heute nicht verziehen. "Es ist vieles besser geworden, als es schon einmal war", berichtet Caren Heuer vom Buddenbrookhaus Lübeck.
"Heute meint Lübeck immer Holstentor, Thomas Mann und Marzipan. Gleichwohl gab es immer wieder Spitzen in diesem Verhältnis. Wie 1955, als Thomas Mann die Ehrenbürgerwürde der Hansestadt Lübeck bekommt. Das kam nur zustande, weil Abgeordnete bei der entscheidenden Abstimmung den Saal verließen. Noch 2015 gab es eine Diskussion um die Umbenennung der Universität zu Lübeck. Da war Thomas Mann dann als Namensgeber im Gespräch. Die Universität heißt heute noch Universität zu Lübeck."
Glanz und Qual: Leben voller Widersprüche
Wer er war? Wohin er gehörte? Ein miserabler Schüler ist er gewesen, dreimal sitzengeblieben. Ein Familienvater, der von sich selbst sagt: "Jemand wie ich sollte selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen" – zwei Söhne enden durch Suizid. 1929 bekommt er den Nobelpreis, zu seinem Kummer nicht für den "Zauberberg". Nur zögernd geht er ins Exil und wird entschiedener Hitler-Gegner. "Wo ich bin, ist Deutschland", ruft er von New York aus Richtung Heimat. Vor seinem Tod: Umjubelt in Ost wie in West notiert er in sein Tagebuch: "Kurios, kurios." Geheuer ist ihm das alles nicht.
"Er wurde gefeiert in dieser Zeit wie wenige oder vielleicht überhaupt kein deutscher Autor vor ihm", kommentiert Lahme. "Diese Verehrung nahm schon enorme Züge an. Das ist ihm natürlich auf der einen Seite alles recht, aber auf der anderen Seite auch unheimlich." In seinem Tagebuch scheine beim Rückblick auf seine Leben neben dem Glanz auch immer die Qual auf. "Und die Frage: 'War es falsch, wie ich gelebt habe?'. Lahme folgert daraus: "Die Ruhmeshöhe konnte nie vertreiben, dass sein Leben doch nicht glücklich war."
Autor TV-Beitrag: Rayk Wieland
Stand: 01.06.2025 22:02 Uhr
Kommentare