So., 06.11.22 | 23:05 Uhr
WDR Fernsehen
Abriss. Neubau. Klimakrise
Der Umbaukultur gehört die Zukunft
Am 6. November beginnt die COP27, die 27. UN-Klimakonferenz, im ägyptischen Scharm asch-Schaich. Zu den großen Themen gehören die Energie- und Verkehrswende. Die Bauwende stand in der öffentlichen Wahrnehmung bisher eher im Abseits. Doch das ändert sich. Vor wenigen Tagen erhielt das Duo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal den Großen Preis des Bundes Deutscher Architekten (BDA). Die Verleihung fand wegen Corona mit Verzögerung statt. Die beiden Pritzker-Preisträger sind Pioniere des nachhaltigen (Um-)Bauens, das Bestehendes schätzt und Altbauten wiederverwendet. Beispiele für alternatives Bauen haben der Architekturhistoriker Christoph Grafe und der Stadtentwickler Tim Rieniets gesammelt und in ihrem Buch "Umbaukultur" veröffentlicht. ttt hat mit ihnen gesprochen.
Klimakiller Bauen
Beim Abriss fallen in Deutschland jährlich rund 230 Millionen Tonnen Bauschutt an. Das sind 55 Prozent der gesamten Abfallmenge. Fast 600 Millionen Tonnen nicht erneuerbarer Rohstoffe kommen beim Neubau zum Einsatz. Gut ein Drittel aller Treibhausgasemissionen eines Gebäudes entsteht bei seiner Herstellung und Errichtung – also vor seiner Nutzung. Keine Frage: Abriss und Neubau sind extrem klimaschädlich.
Ästhetik des Umbauens

Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal sind Vorreiter des Bauens im Bestand. Wie das geht, haben sie mit ihrem Projekt "Le Grand Parc" in Bordeaux gezeigt: Statt 530 Sozialwohnungen abzureißen und neuzubauen, haben sie die Gebäude modernisiert, den Wohnkomfort erhöht und den Energieverbrauch gesenkt. "Man verliert so viel durch den Abriss", sagt Anne Lacaton, "es ist eine große Vergeudung an Material, Volumen, Quadratmetern, eine ökonomische und eine soziale Verschwendung." Die beiden Stararchitekten haben dem Umbau eine eigene Ästhetik gegeben und mit ihren kreativen Lösungen Maßstäbe gesetzt. "Der Bestand ist das wesentliche Material, mit dem wir arbeiten", so Jean-Philippe Vassal, "aber auch das Licht, die Luft und die Menschen. Sie sind das schönste Material, das man verwenden kann."
"Reduce, reuse, recycle"

Obwohl die Vorteile des Bauens im Bestand auf der Hand liegen, entscheiden sich Bauherren und Investoren hierzulande immer noch viel zu oft für Abriss und Neubau. Dahinter stehen massive wirtschaftliche Interessen. "Es ist auch eine Kultur", sagt Tim Rienits, Professor für Stadt- und Raumentwicklung an der Universität Hannover. "Wir haben jetzt seit über 100 Jahren darauf hingearbeitet, alles abzureißen und ständig neu zu bauen." Um Politik und Gesellschaft zum Umdenken zu bewegen, fordert der BDA jetzt sogar ein Abrissmoratorium. "Es ist noch viel zu einfach, ein Gebäude abzureißen. Und es gibt ja keinerlei Bewertung des Bestandes, also der darin gebundenen Ressourcen", erklärt BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck und verweist darauf, "dass wir sogar steuerliche Vorteile haben beim Abriss".
Gelungene Beispiele
In dem von Tim Rieniets und Christoph Grafe herausgegebenen Band "Umbaukultur" findet sich auch die alte Samtweberei in der Textilstadt Krefeld. Sie hat eine bewegte Geschichte. Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, wurde sie in den 1970ern stillgelegt. Jahrelang lag das Gelände brach. Ab 2014 wurde der Komplex mit Hilfe einer Stiftung umgebaut. Wohnungen, Büroräume, Werkstätten und Gemeinschaftseinrichtungen entstanden. Heute ist die Samtweberei ein Beispiel dafür, wie der Umbau ein ganzes Quartier neu belebt.

Und es gibt noch einen weiteren Vorzug des Bauens im Bestand: Es ermöglicht, dem wachsenden Leerstand in den Städten – verwaiste Kirchen, aufgegebene Kaufhäuser, verlassene Wohnblocks – zu begegnen. In Bochum ist das neue Festspielhaus "Anneliese Brost Musikforum" durch Erweiterung und Umbau der profanierten Sankt-Marien-Kirche entstanden. "Mit dem Prinzip der Transformation zu arbeiten, das ist eine große Chance für alle Architekten", sagt Jean-Philippe Vassal. "Wir sollten die Dinge, die uns umgeben, anders betrachten, mit mehr Liebe und Freundlichkeit, und das Positive erkennen, das leicht übersehen wird."
Buchtipp
Christoph Grafe, Tim Rieniets (Hg.): Umbaukultur.
Für eine Architektur des Veränderns
Kettler-Verlag 2022, Preis: 38 Euro
Autorin des TV-Beitrags: Claudia Kuhland
Die komplette Sendung steht am 6. November ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 06.11.2022 20:38 Uhr
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