So., 07.06.20 | 23:05 Uhr
Das Erste
Trauer. Wut. Trauma
Amerika brennt
Es ist eine verhängnisvolle Konstellation: Amerika erlebt derzeit die größten Proteste seit der Ermordung von Martin Luther King im April 1968. Amerika ist gelähmt durch eine Pandemie, die die Kluft zwischen schwarz und weiß, zwischen arm und reich noch deutlicher hervortreten lässt. Und Amerika ist geschwächt durch einen Präsidenten, der die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt und die Krise mit Chaos bekämpft.
Seit am 25. Mai George Floyd bei einem Polizeieinsatz brutal getötet wurde, entlädt sich die Wut der amerikanischen Schwarzen in nicht nur friedlichen Protesten. Auf der ganzen Welt solidarisieren sich Menschen mit der "Black Lives Matter"-Bewegung. An diesem Wochenende demonstrierten Zehntausende in den deutschen Großstädten gegen Rassismus. ttt sprach in New York mit Hawk Newsome, einem der führenden Aktivisten von "Black Lives Matter", und traf den Fotografen Ken Schles, einen Chronisten der Ära Trump, der die Proteste gegen ihn nicht als Beobachter, sondern als Teilnehmer begleitet.
Wie viel zählt ein schwarzes Leben?

Hawk Newsome kommt aus der Bronx. Der 43-Jährige hat Jura studiert. Jetzt kämpft er für "Black Lives Matter". Die Bewegung formierte sich 2013 nach dem Freispruch des Feuerwehrmanns George Zimmerman, der wegen Mordes am afroamerikanischen Teenager Trayvon Martin vor Gericht stand. Newsome sieht wie viele andere in George Floyds Tod die Fortsetzung einer Reihe skandalöser Tötungsdelikte: Meist waren die Opfer Schwarze, die Täter weiße Polizisten. Kaum einer von ihnen wurde verurteilt – und wenn überhaupt, dann nur zu geringen Haftstrafen. Dass Derek Chauvin, jener Polizist, der fast neun Minuten lang sein Knie auf Floyds Nacken drückte, bereits nach wenigen Tagen angeklagt wurde, besagt, so Newsome, nichts. Vermutlich werde auch dieser Prozess mit einem Freispruch enden.
Alltäglicher Rassismus

Die USA sind auch mehr als 150 Jahre nach dem Verbot der Sklaverei und 55 Jahre nach dem Ende der Rassentrennung ein tief gespaltenes Land. Noch immer prägen rassistische Vorurteile den Alltag. Die Hoffnungen, die viele Afroamerikaner mit Barack Obama verknüpften, haben sich nicht erfüllt. Eine verfehlte Sozialpolitik und die wachsende Angst der Mittelklasse haben dazu geführt, dass die Menschen am Rande der Gesellschaft, seien sie schwarz oder arm oder beides, unter Generalverdacht stehen. Mit katastrophalen Folgen, wie die zunehmende Polizeigewalt gegen Schwarze zeigt. In Minneapolis, der Heimat George Floyds, stellen Afroamerikaner 20 Prozent der Bevölkerung, aber 60 Prozent der Opfer polizeilicher Brutalität.
Die wahre Sprache Amerikas
Hawk Newsome war früher davon überzeugt, dass nur gewaltfreie Proteste zum Erfolg führen könnten. Heute glaubt er das nicht mehr. Amerikas Sprache sei die Gewalt. "Schon die 'Boston Tea Party', die am Anfang der Unabhängigkeit von Amerika steht, war eigentlich ein Aufstand. Das ganze Land beruht auf einem Aufstand. Und jetzt verurteilen sie Rebellen, weil sie Rechte für Schwarze fordern. Dabei sprechen wir doch jetzt nur die wahre Sprache Amerikas."
Am Rande eines Bürgerkriegs
Die Bilder aus den Metropolen der USA sind schockierend. Mehrere Städte haben Ausgangssperren verhängt. Das Land scheint sich auf einen Bürgerkrieg zuzubewegen – befeuert von Donald Trump, der mit Militärgewalt gegen die Demonstranten gedroht hat. "Danke Donald Trump, dass du den Funken zur Revolution geschlagen hast", sagt Hawk Newsome. "Er hat uns geholfen, so weit zu kommen. Er hat den Aufstand angezettelt. Das hätte ich in 100 Jahren nicht geschafft: Er hat jedem gezeigt, wie rassistisch Amerika ist."

Ken Schles, Fotograf und Künstler, lebt in der Lower East Side. Seine Werke sind unter anderem im Museum of Modern Art und dem Art Institute of Chicago zu sehen. Er war auch in diesen Tagen an vorderster Front dabei, als die Menschen in New York gegen den Rassismus protestierten. "Nur wegen 'Black Lives Matter' sind wir auf der Straße. Eigentlich herrscht in New York noch Lockdown." Ken Schles hat in die Gesichter der Verzweifelten, Trauernden und Zornigen geblickt. Und er hat gesehen, wie die Wut wächst. Die USA sind für ihn ein "Failed State", ein gescheiterter Staat.
Aber es gibt, wenn auch vereinzelt, Zeichen der Versöhnung zwischen den Fronten, "Weiße, die an die Befreiung der Schwarzen glauben, Arme und Reiche. Weiter so!", sagt Hawk Newsome. "Hier wurde etwas angestoßen", so Ken Schles, "diesmal kann sich etwas verändern."
Buchtipps
Ken Schles: Invisible City.
Steidl Verlag 2016, Preis: 34 Euro
Ken Schles: Night Walk.
Steidl Verlag 2016, Preis: 38 Euro
Autoren des TV-Beitrags: Andreas Ammer/Juergen Fraenznick
Stand: 08.06.2020 09:49 Uhr
Kommentare