So., 08.11.20 | 23:05 Uhr
Das Erste
Lockdown mit Nebenwirkungen
Kultur auf Abstand
Seit dem 2. November steht die Kultur in Deutschland still. Theater und Museen sind geschlossen. In den Kinos bleibt die Leinwand dunkel. Konzerte wurden abgesagt. Der zweite Lockdown trifft sie mit voller Wucht. Von "light" kann aus ihrer Perspektive keine Rede sein.
Der Frust ist groß, hatte man sich doch nach dem Shutdown im Frühjahr viel einfallen lassen, um nach der Zwangsschließung wieder öffnen zu können. Gerade war die Kulturszene dabei, sich zu stabilisieren. Nun ist sie erneut ausgebremst – mit unabsehbaren Folgen. Viele haben mit Unverständnis, ja geradezu Fassungslosigkeit reagiert, manche Klage eingereicht. Und alle fragen sich: Wie wird es weitergehen? ttt hat mit Kulturschaffenden in ganz Deutschland gesprochen.
"Systemrelevanz"

"Ich habe Verständnis dafür, dass man Wege sucht, die Kontakte möglichst gering zu halten", sagt Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. "Trotzdem finde ich, dass unser Beitrag zu unserer Gesellschaft und auch zu unserer angegriffenen Demokratie sehr, sehr wichtig ist. Gerade jetzt!"
Kultur als Treibstoff

Da ist sie wieder – die schon im Frühjahr gestellte Frage nach der "Systemrelevanz". Sie trifft mitten ins Herz des kulturellen Selbstverständnisses. "Wir brauchen Kultur, um unsere Gesellschaft im Gleichgewicht zu haben", sagt die Violinistin Anne-Sophie Mutter. Und Stephan Berg, Direktor des Kunstmuseums Bonn, ergänzt: "Ich wünsche mir, dass der Begriff von der Kultur und Kunst als Lebensmittel für eine Gesellschaft nicht nur in Sonntagsreden vorkommt und nicht nur in guten Zeiten, sondern gerade und vor allem in Krisenzeiten aktualisiert wird. Wir müssen begreifen, dass Kultur ein Treibstoff für gesellschaftliche Entwicklung ist."
Zurzeit aber sieht es nicht danach aus. Die Wirtschaft geht vor. Kultur scheint bei den politischen Entscheidern nicht einmal die zweite Geige spielen. "Warum darf man nicht ins Museum, aber ins Kaufhaus des Westens gehen? Das erschließt sich mir nicht", meint Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne.
Enorme Anstrengungen
Die Enttäuschung über den zweiten Lockdown sitzt tief, zumal die Anstrengungen enorm waren, um die Hygienevorgaben zu erfüllen. "Man hätte mit den Häusern, den Kultureinrichtungen ins Gespräch gehen müssen, so wie wir es angeboten haben", sagt Barbara Mundel von den Münchner Kammerspielen. "Die Antwort war Schweigen, und das erfüllt uns nicht mit Freude."
Trost in der Kunst

Betroffen sind ja nicht nur die Künstlerinnen und Künstler selbst, sondern auch viele aus dem unmittelbaren Umfeld: Fotografen und Konzertveranstalter, Garderobiere und Beleuchter, Touristikunternehmen und Caterer. "Da hängt unglaublich viel dran", sagt Anne-Sophie Mutter. "Wenn wir nicht mehr spielen, dann ist der Ofen aus. Für viele, viele Familien."
Sie wirbt, wie ihre Kollegen, um Solidarität, auch bei den Kirchen, die weiterhin Gottesdienst feiern dürfen und Musiker dazu einladen können. "Es ist ein Recht nicht nur von uns Künstlern, dass wir Kunst ausüben dürfen, sondern es ist jedermanns Recht, in der Kunst, im Film, im Konzertbesuch Trost zu finden. Emotionale Wärme und Nähe zu finden. Gerade in Zeiten, in denen wir durch vernünftiges Social Distancing ja nicht mehr wahnsinnig viel zu lachen haben."
Mittlerweile hat auch die Politik auf die Empörung reagiert. Am Freitag richtete die nordrhein-westfälische Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen einen Appell an die Kulturbranche, die harten Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Coronakrise mitzutragen. Die Kultur müsse aufpassen, "dass sie nicht immer eine Extrawurst brät", warnte die Ministerin im Kulturausschuss des Landtags.
Autorinnen des TV-Beitrags: Claudia Kuhland/Marion Ammicht
Stand: 09.11.2020 09:13 Uhr
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