So., 09.10.22 | 23:20 Uhr
Das Erste
Frau. Leben. Freiheit
Mutige Frauen führen die neue Protestbewegung im Iran an
Seit drei Wochen wird im Iran protestiert und die Protestbewegung weitet sich aus. Frauen verbrennen ihre Schleier, Kinder fordern das Ende des Regimes, Studierende aus allen Gesellschaftsschichten schließen sich an. Ein zentraler Slogan sind die kurdischen Worte "Jin, Jiyan, Azadi" ("Frau. Leben. Freiheit").
Auslöser ist der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Die Iranerin kurdischer Abstammung war am 13. September bei einem Besuch in Teheran von der Sitten- und Religionspolizei aufgegriffen worden, weil sie ihren Hijab nicht korrekt trug. Nach der gewaltsamen Festnahme fiel sie ins Koma und starb drei Tage später unter ungeklärten Umständen im Krankenhaus. ttt hat mit den beiden Künstlerinnen Shirin Neshat und Parastou Forouhar über die Protestbewegung gesprochen.
"Die Frauen haben immer die Regeln gebrochen"
"Die Regierung hat den Körper von Frauen schon lange als ein Schlachtfeld für ihre religiöse und ideologische Rhetorik missbraucht", sagt Shirin Neshat. Die Künstlerin, Filmemacherin und Fotografin gilt als Pionierin des iranischen Feminismus. 1979 ging sie in die USA ins Exil, kehrte 1990 nach dem Tod von Ayatollah Khomeini für einige Jahre in den Iran zurück und lebt jetzt abwechselnd in New York und Berlin.

Die Rolle der Frauen – im Islam, im Exil, im Westen – ist das Hauptthema ihrer Arbeit. Mit starken Kontrasten setzt sie Welten, Perspektiven, Erfahrungen gegeneinander. Eines ihrer bekanntesten Werke ist die Fotoserie "Women of Allah" (1993–1997). Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen bewaffnete Frauen, verhüllt mit dem Tschador, Füße, Hände und Gesicht bedeckt mit persischer Lyrik in kalligrafischer Schrift. "Mich hat immer wieder extrem inspiriert, wie die Frauen sich Gehör verschaffen, von der kleinsten Geste bis zur größten, wie aktuell auch. Oberflächlich betrachtet mögen die Frauen gehorsam gewirkt haben, aber sie haben immer die Regeln gebrochen."
"Die Wunde ist alt"
Parastou Forouhar studierte Kunst an der Universität Teheran. 1991 ging sie zum Aufbaustudium nach Offenbach am Main und blieb. Ihre Eltern waren bekannte Oppositionspolitiker im Iran. Sie kämpften für Demokratie und Selbstbestimmung. 1998 wurden sie ermordet. Die Tochter führt ihr politisches Erbe fort und reist jedes Jahr zu ihrem Todestag am 21. November nach Teheran, um eine Gedenkveranstaltung abzuhalten. Die Unterdrückung ist nicht neu, sagt sie. "Was neu ist, sind diese Proteste, die die Gewalt und die Wunde offen zeigen. Aber die Wunde ist alt."

In vielen ihrer künstlerischen Arbeiten beschäftigt sie sich mit den Opfern des Regimes. Demnächst wird sie in Ulm ausstellen. "Die Islamische Republik ist eine absolut toxische Männlichkeit. Seit Jahren waren die Parolen immer 'Tod den USA', 'Tod Israel'. Alle sollten tot sein. Und jetzt ist die Parole Leben und dann auch die Freiheit, die eigentlich die Kernidee dieser ganzen Aufstände ist. Das finde ich großartig."
Die erste weibliche Revolution
Wie Parastou Forouhar und Shirin Neshat solidarisieren sich viele Exil-Iranerinnen mit den Frauen in ihrer Heimat. Sie hoffen auf einen grundlegenden Wandel. Und sie wissen, dass die Bewegung weit über den Iran hinausweist. "Was dort gerade geschieht, betrifft nicht nur den Iran", sagt Shirin Neshat. "Den Frauen dort gelingt gerade vielleicht die erste weibliche Revolution. Und das sollte gefeiert werden, von jeder Frau, weltweit."
Autorin des TV-Beitrags: Claudia Kuhland
Die komplette Sendung steht am 9. Oktober ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 12.10.2022 16:06 Uhr
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