So., 10.04.22 | 23:35 Uhr
Das Erste
"Ich werde leben"
Lale Güls Kampf um die Freiheit
"Ich werde leben" – so heißt der Debütroman der 25-jährigen Niederländerin Lale Gül. Sie schaffte es damit auf Anhieb an die Spitze der Bestsellerlisten und löste eine landesweite Debatte über Integration, Islamophobie und Parallelwelten aus. Von Islamisten erhielt sie Morddrohungen und musste zu ihrem eigenen Schutz vorübergehend untertauchen. Am 11. April erscheint das Buch in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp. ttt hat die Autorin in Amsterdam getroffen.
Aufwachsen im ultrakonservativen Umfeld
Lale Gül, 1997 in Amsterdam als Tochter türkischer Einwanderer geboren, wuchs in einem ultrakonservativen muslimischen Milieu auf, in dem die Migranten unter sich bleiben und keinen Kontakt nach außen suchen. In ihrem autobiografischen Roman erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend und von der Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben.
Büsra, die Ich-Erzählerin des Buches, besucht – wie alle Kinder aus ihrer Umgebung – die Koranschule der Millî-Görüş-Vereinigung und muss sich einem strengen Reglement unterwerfen, das sie auf die Rolle der gehorsamen Ehefrau vorbereitet. "Alles, was mir - oder Büsra - Spaß macht im Leben, Musik hören, ausgehen, an den Strand gehen, Beziehungen, Sex, Freunde, frei seine Meinung sagen, alles denken dürfen und alles bezweifeln – all das war verboten. Im Namen des Glaubens."

Lale Gül beginnt, sich aufzulehnen, Bücher zu lesen, sich der Kontrolle zu entziehen. Ihr Buch ist Beschreibung, Abrechnung und Anklage zugleich. Sie schildert die Zwänge und Nöte des jungen Mädchens und verurteilt die Unterdrückung durch das ultrareligiöse Kollektiv. "Ich habe das Buch als Tagebuch begonnen", sagt sie. "Es sollte heißen 'Tagebuch einer Abtrünnigen'. Ich wollte meinen ganzen Frust aufschreiben, damit andere Menschen ihn begreifen. In meinem persönlichen Umfeld gab es keinen, der dafür Verständnis hatte."
Welle des Hasses
Als "Ich werde leben" im Februar 2021 in ihrem Heimatland erschien, brach ein Sturm der Entrüstung los. Lale Gül war auf Social Media das Ziel massiver Angriffe. Sie selbst sagt, dass sie die Wirkung unterschätzt und die Verständnisbereitschaft überschätzt habe. Auch ihre engste Umgebung, Familie, Freunde, Bekannte setzten sie unter Druck. Sie wurde auf der Straße als Hure beschimpft und bespuckt. Zu Hause drohte die Mutter mit Selbstmord, der Vater nannte sie eine "Nestbeschmutzerin". Der private Shitstorm schlug immer höhere Wellen und wurden zu einer öffentlichen Debatte – kein Wunder in einer Gesellschaft, die bereits seit Jahren dem Spannungsfeld zwischen radikalem Islamismus und rechtspopulistischer Islamophobie ausgesetzt ist.
Zwischen den Fronten
Der "Fall" Lale Gül wurde im vergangenen Frühjahr zu einer nationalen Angelegenheit. Während sich die junge Autorin in ihrem Versteck aufhielt, engagierten sich Politiker, Intellektuelle und Publizisten für sie. Lale Gül wurde zur Galionsfigur der Emanzipation und Befreiung, aber auch zur Gewährsfrau all jener, die schon immer die Integration für gescheitert hielten – allen voran der rechtspopulistische Politiker Geert Wilders. Lale Gül stand zwischen allen Fronten und musste sich immer wieder neu erklären. "Es war auf einmal klar, dass mein Buch zu einem Politikum geworden war. Es war kurz von den Wahlen herausgekommen. Es gab sogar einen Tweet aus der Arbeiterpartei, der sagte: Lale Gül hat das Buch mit Absicht geschrieben, damit die Rechtsextremen die Wahlen gewinnen. Was für ein Schwachsinn!"
Sie selbst will sich von niemandem vereinnahmen lassen und pocht auf ihr Recht, über ihr Leben selbst zu bestimmen. "Ich will keine Heimlichkeiten mehr. Ich will nicht mehr lügen, betrügen, heucheln. Ich will meine Identität ausleben, und jeder in meinem Umfeld soll das auch tun können. In meinem Kulturkreis war das nicht möglich."
Buchtipp
Lale Gül: Ich werde leben.
Suhrkamp Verlag 2022, Preis: 18 Euro
Autorin des TV-Beitrags: Hilka Sinning
Die komplette Sendung steht am 10. April ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 10.04.2022 18:34 Uhr
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