So., 18.12.22 | 23:35 Uhr
Das Erste
Auf der Suche nach dem Glück
Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux und ihre Super-8-Tagebücher
Sie ist die erste französische Schriftstellerin, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Am 7. Dezember hat Annie Ernaux ihn in Stockholm entgegengenommen. In ihrer beeindruckenden Rede hat sie nicht nur über ihr Lesen und Schreiben gesprochen, sondern auch die aktuellen Krisen thematisiert: von der Unterdrückung der Frauen im Iran bis zur drohenden Klimakatastrophe. Am 29. Dezember kommt ihr Film "Die Super-8-Jahre" ins Kino – eine sehr persönliche Erinnerung an das Leben einer französischen Mittelklassefamilie in den 1970er Jahren.
Ethnologin in eigener Sache
Im Schreiben hat Annie Ernaux eine besondere Form des Erinnerns gefunden. Sie erzählt in ihren Büchern von ihrem Leben und lässt dabei doch das rein Autobiografische hinter sich. Die Literaturkritik hat ihre Schreibweise "autofiktional" genannt – eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in der das Selbsterlebte sich in den kollektiven Erfahrungen bricht. Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als Etnologin in eigener Sache, die auch höchst Privates sachlich, distanziert, ja sogar kühl beschreibt.

Am 1. September 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren, ist sie in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Die Mutter verließ mit zwölf Jahren die Schule und wurde Fabrikarbeiterin. Später betrieb sie gemeinsam mit ihrem Mann einen kleinen Laden. Annie war elf, als sie Zeugin wurde, wie der Vater die Mutter mit einer Axt zu ermorden versuchte. Über beide hat sie jeweils ein Buch geschrieben: "Der Platz", in dem sie das Leben des Vaters proträtiert, und "Eine Frau", in dem sie der Mutter wenige Wochen nach ihrem Tod ein Denkmal setzt.
Annie Ernaux' Bücher handeln vom sozialen Aufstieg, von Entfremdung und Scham, vom Weg einer Frau, die gegen alle Widerstände um Selbstbestimmung kämpft. Nach dem Besuch einer katholischen Privatschule war sie die erste in ihrer Familie, die an der Universität studierte. Sie wurde Lehrerin, heiratete und bekam zwei Söhne. Erst allmählich entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben. 1974 erschien in Frankreich ihr erster Roman "Les armoires vides". In Deutschland wurde sie erst 2017 einem größeren Leserkreis bekannt, als die deutsche Übersetzung ihres im Original bereits 2008 veröffentlichten Meisterwerks "Les années" erschien.
Die Super-8-Jahre

Eine besondere Form des Erinnerns ist auch ihr Film "Die Super-8-Jahre", der am 29. Dezember in die Kinos kommt. Gegen Ende des Winters 1972 kauften Annie Ernaux und ihr Mann Philippe eine Super-8-Kamera. Philippe Ernaux übernahm von 1972 bis 1981 die Rolle des Kameramannes. Vor der Kamera zu sehen sind Annie und ihre beiden Söhne Eric und David. Jahre später hat Annie Ernaux die alten Aufnahmen wiederentdeckt und sie gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot zu einem Film montiert. "Bei der erneuten Sichtung unserer Super-8-Filme, die zwischen 1972 und 1981 gedreht wurden, kam mir der Gedanke, dass sie nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch ein Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968 darstellen. Ich wollte diese stillen Bilder in eine Geschichte einbinden, die die Vertrautheit mit dem Sozialen und der Geschichte kombiniert, um den Geschmack und die Farben dieser Jahre zu vermitteln."
Zu sehen sind Familienszenen: Davids erste Skiabfahrt, Erics vorsichtige Schwimmversuche, Weihnachtsfeiern und Spaziergänge am Seeufer in Annecy. Aber auch Aufnahmen von Reisen an außergewöhnliche Orte: nach Chile, nach Albanien und in die Sowjetunion. Unterlegt sind sie mit Annie Ernaux' Kommentaren von heute. Wie in ihren Büchern beschreibt sie präzise und schnörkellos, was sie sieht und woran sie sich erinnert. Erst ihre Worte machen aus den privaten Aufnahmen Zeitzeugnisse, die den Alltag, die Sehnsüchte und Träume der französischen Mittelklasse in den 70er Jahren dokumentieren. Dass sie selbst zu dieser Zeit an ihrem ersten Roman schrieb, hat sie lange vor ihr eigenen Familie verheimlicht. 1981 zerbrach die Ehe mit Philippe. Es ist auch das Ende der "Super-8-Jahre". Annie Ernaux' literarischer Aufstieg aber sollte erst beginnen.
Autorin des TV-Beitrags: Hilka Sinning
Die komplette Sendung steht am 18. Dezember ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 18.12.2022 16:33 Uhr
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