So., 19.03.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der vermessene Mensch und sein koloniales Erbe
Lars Kraumes Leinwanddrama über den ersten deutschen Völkermord
Die Kolonialverbrechen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Genozid an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gehören zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. Nach Jahrzehnten des Verdrängens hat erst in den vergangenen Jahren die öffentliche Aufarbeitung eingesetzt. Im Mai 2021, mehr als 100 Jahre nach dem Genozid, hat die Bundesregierung den Völkermord anerkannt und in einem Abkommen mit Namibia den Nachkommen der Herero und Nama Unterstützungszahlungen in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zugesagt. Das sogenannte Versöhnungsabkommen ist allerdings noch nicht ratifiziert. Vertreter der Opfergruppen kritisieren, dass sie an den Verhandlungen nicht beteiligt waren. Ihre Stimme wurde einfach nicht gehört.
"Der vermessene Mensch" ist der erste deutsche Spielfilm, der sich diesem Thema widmet. Der Film von Lars Kraume hatte auf der Berlinale Weltpremiere. Am 14. März wurde er im Deutschen Bundestag gezeigt und kommt am 23. März in die Kinos. ttt hat Regisseur Lars Kraume und die Schauspielerin Girley Charlene Jazama im Humboldt Forum Berlin getroffen, dessen ethnologische Sammlung eng verknüpft ist mit der Frage, wie wir mit dem kolonialen Erbe umgehen.
Die dunkle Seite der Wissenschaft

Berlin am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), ein ehrgeiziger Ethnologie-Doktorand, arbeitet als wissenschaftlicher Assistent an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Er will Karriere machen im rassistischen Kaiserreich.
Als 1896 in Berlin Treptow eine "Völkerschau" stattfindet, lernt er Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), eine Herero-Frau aus "Deutsch-Südwestafrika, kennen und verliebt sich in sie. "Diese Figur ist ja quasi ein Symbol für das, was Kolonialisten – in diesem Fall ein Ethnologe – auf ihren Reisen gesucht haben", sagt Lars Kraume. "Ein Aspekt des Kolonialismus ist bestimmt auch eine romantische Verklärung von Exotismus und der Ferne."
"Völkerschauen" oder "Kolonial-Ausstellungen" erfreuen sich Ende des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Angehörige als fremd empfundener Ethnien werden unter menschenunwürdigen Bedingungen gegen Eintrittsgebühren "ausgestellt". Hoffmann und seine Kommilitonen nutzen die Gelegenheit, um Schädelvermessungen durchzuführen – eine damals übliche Methode zur Feststellung von Rassenmerkmalen mit dem Ziel, die Überlegenheit der weißen Rasse zu beweisen. Girley Charlene Jazama erinnert sich an die Dreharbeiten: "Es hat mich sehr aufgewühlt. Ich habe gespürt, wie sich meine Vorfahren gefühlt haben. Wie auf dem Viehmarkt. Man taxiert die Zähne, die Hufe, das Fell von einem Pferd oder einer Kuh. Es ist extrem übergriffig. Diese Leute kannten keine Grenze. Sie haben uns als Objekt betrachtet, das man sich einfach aneignen kann."
Kolonialregime in Deutsch-Südwestafrika

Doch die Delegation mit Kezia als Dolmetscherin ist nicht gekommen, um sich begaffen und vermessen zu lassen. Sie wollen eine diplomatische Lösung für den Konflikt zwischen den Herero und den Nama in ihrer Heimat finden, die seit 1884 deutsche Kolonie ist. Ihre Mission bleibt erfolglos. Sie reisen unverrichteter Dinge ab.
In Deutsch-Südwestafrika haben die Einheimischen immer stärker unter dem brutalen Regime der Kolonialherren zu leiden. 1904 beginnen sich die Herero und Nama gegen die Unterdrückung der Deutschen zu wehren. Die Kolonialtruppen reagieren mit großer Brutalität. Generalleutnant Lothar von Trotha ruft zum Vernichtungskrieg auf.
Zeuge des Völkermords
Alexander Hoffmann bekommt die Gelegenheit, als Mitglied einer Expedition im Schutze der kaiserlichen Armee durch das Land zu reisen und für das Berliner Völkerkundemuseum Artefakte, Spielzeug und Alltagsgegenstände zu sammeln. Er wird Zeuge unvorstellbarer Grausamkeiten der deutschen Kolonialherren. Der Ethnologe muss mit ansehen, wie Zehntausende Frauen, Männer und Kinder der Herero in die Omaheke-Wüste vertrieben werden. Wen die deutschen Kolonialtruppen aufgreifen, der wird erschossen oder in die neu errichteten "Konzentrationslager" verfrachtet. Nach historischen Schätzungen fielen dem Genozid zwischen 1904 und 1908 bis zu 60 000 Herero und rund 10 000 Nama zum Opfer. Die Überlebenden wurden versklavt, das Land komplett enteignet. Den wissenschaftlichen Überbau für den Völkermord hatte die Rassentheorie geliefert.
Moralischer Verfall

Alexander Hoffmann verstrickt sich immer mehr in ein Geflecht aus Widersprüchen. Er macht sich schuldig, als er einwilligt, für seinen Chef Schädel und Skelette toter Herero zu Forschungszwecken zu sammeln und nach Berlin zu schicken. "Diese archaische Geschichte ist die Geschichte eines jungen Mannes, der keinen moralischen Kompass hat, der am Anfang denkt, er steht auf der richtigen Seite der Geschichte, und der sich Stück für Stück von der Maschinerie des Imperialismus verführen lässt", sagt Lars Kraume
Noch heute lagern die Zeugnisse dieses moralischen Verfalls in den europäischen Museen und Archiven. Allein die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der auch das Humboldt Forum gehört, besitzt noch immer 4000 menschliche Überreste aus kolonialem Kontext, darunter 1200 Schädel, die gerade den Herkunftsländern Ruanda, Tansania und Kenia zur Rückgabe angeboten wurden.
Autorin des TV-Beitrags: Marion Ammicht
Die komplette Sendung steht am 19. März ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 19.03.2023 18:46 Uhr
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