So., 19.06.22 | 23:05 Uhr
Das Erste
Die documenta Halle
Das Herz der Kollektive
Die documenta Halle ist wieder einer der beeindruckendsten Orte dieser Weltkunstschau. Hier präsentieren sich diesmal Kollektive, die alle einen ähnlichen Ansatz haben: Das Teilen von Wissen. Ihre Kunst ist ein Motor, der die strukturschwachen Herkunftsregionen mit Arbeit und Lebensglück aktiviert. Kunst wird hier als wachsender, sich selbst potenzierender Organismus verstanden, als Überlebensstrategie, als Zündung für unabhängige Arbeitsprojekte, als Safe Space, als echte Perspektive an hoffnungslosen Orten.
Wakaliga Uganda zum Beispiel ist ein Filmstudio aus Wakaliga, einem Slum in Kampala. Sein Gründer Isaac Nabwana wird oft als Tarantino Ugandas bezeichnet. Seit 2005 hat er fast 50 Action-Filme gedreht, mit einem extrem niedrigen Budget von oft nur 200 US-Dollar. Die Filme, die als "Wakaliwood" weltweit gezeigt, gefeiert und geliebt werden, sind alle im kollektiven Prozess entstanden, gedreht zum Beispiel von Mechanikerinnen und Obstverkäufern. Und gleichzeitig ist es ein soziales Projekt, das hunderte junge Menschen von der Straße und von Drogen fernhält.
Am Eingang der documenta Halle hat das Wajukuu Art Project aus Lunga Lunga (Kenia) einen dunklen Tunnel gebaut, durch den man ins Herz der Ausstellung und zu ihren Skulpturen kommt. In Kenia arbeiten sie seit bald 20 Jahren daran, den Mukuru-Slum unterhalb des Industriegebiets Nairobis zu einem Ort zu machen, an dem Kinder sich frei entfalten können. Durch die Produktion hochwertiger Kunst werden Arbeitsplätze geschaffen, aber auch durch Tanzen, Malen, Singen und Musik Talente gefördert und Perspektiven abseits von trister Armut entwickelt. Wajukuu Art Project will das System, das so viel Ungerechtigkeit und so viele Verlierer produziert, von innen heraus gerechter gestalten. Ein beeindruckendes Projekt!
Und auch das Kollektiv INSTAR fordert soziale Gerechtigkeit – in der sozialistischen Diktatur Kuba. Die Aktivistin und renommierte Künstlerin Tania Bruguera will "gesellschaftspolitische Alphabetisierung". Und hat dafür das Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR) gegründet. Dessen Teilnehmer:innen haben 100 Stunden lang das Buch "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" von Hannah Arendt gelesen und diskutiert. Und dann dieses neue Wissen in Projekte umgesetzt. Nach Kassel haben sie unter anderem den Holznachbau eines Hauses aus Havanna mitgebracht, in dem vor knapp 30 Jahren der erste unabhängige Ausstellungsraum Kubas gegründet worden war. Ein Symbol des Widerstands. Vom kubanischen Regime werden sie wegen solcher Aktionen verfolgt, drangsaliert und zensiert.
Das Baan Noorg Collaborative Arts and Culture hat mitten in die documenta Halle eine Halfpipe gesetzt und lässt hier Skater Flips machen. Baan Noorg ist eine thailändische Initiative, die Strategien für die Entwicklung von Gemeinschaften entwirft. Gemeinsam mit lokalen Communities – etwa Milchbauern, Skaterinnen oder Mönchen – in Thailand und Kassel wird sozialkritische Kunst entwickelt, ein eigenes "politisch-kulturelles Kapital" erschaffen.
"ttt" trifft vier Kollektive, die mit ihrer aktivistischen Kunst in völlig unterschiedlichen Gesellschaften nachhaltige Veränderungsprozesse anstoßen.
Beitrag: Andreas Krieger
Stand: 19.06.2022 21:49 Uhr
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