So., 18.10.20 | 23:35 Uhr
Das Erste
Michel Friedman und Harald Welzer
Zeitenwende – Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde
Meldungen aus den vergangenen Monaten:
Es gibt rund 370 rechtsextreme Verdachtsfälle in den deutschen Sicherheitsbehörden.
Der Präsident des Zentralrats der Juden sprach von einer neuen Dimension des Antisemitismus in Deutschland.
Björn Höcke: Wir sind willens und in der Lage, diese unsere AFD zur einzig relevanten Volkspartei in Deutschland zu machen.
Reichsflaggen auf den Treppen der Demokratie.
"Es ist schlimm", sagt der Publizist und Autor Michel Friedman. "Und es ist ernst! Und selbst ein CSU-Innenminister stellt fest: Der Rechtsextremismus ist die größte Gefährdung für die Demokratie. Und darum geht es!"
Was sind das für Zeiten? Wie viele dieser Nadelstiche muss eine Demokratie ertragen? Wie umgehen mit denen, die sie attackieren? Was steht da auf dem Spiel? Erleben wir gerade eine Zeitenwende? Woher kommt diese Erosion von Werten, von: Zivilisation? Harald Welzer, Soziologe und Autor, sagt: "Es könnte sein, dass wir in unserem Gesellschaftsmodell lange Zeit in einer Erfolgsfalle gesteckt haben. Ein erfolgreiches System, erfolgreicher als je eines in der Geschichte gewesen ist: von der Freiheit, Wohlstand, Partizipation und so weiter. Ohne das jetzt schönreden zu wollen, aber da ist wirklich eine Menge sehr Erfolgreiches passiert. Und es gibt dann immer die Falle, dass man denkt, das geht so weiter. Und wenn dann solche Dinge passieren wie die Finanzkrise, wie 9/11, wie zunehmende Gewalt in der Welt verbunden mit Flüchtlingsbewegungen, dann ist man in so einer Mentalität: "Das trifft uns nicht im Kern." Und man bearbeitet es nicht."
Mehr Menschenfeindlichkeit, mehr Hass
In ihrem Buch diskutieren Friedman und Welzer die Zeichen unserer Zeit: wachsende soziale Ungleichheit, eine überfordernde Digitalisierung, rechte Attacken auf die Menschenwürde, eine entgrenzte Sprache. "Das alles führte nicht dazu", so Friedman, "dass man mit Lust und Engagement egal in welcher Richtung sich mit der Demokratie auseinandergesetzt hat, die wie alles im Leben nicht statisch ist, sondern dynamisch. Andere haben sich auf den Weg gemacht und hatten viel Lust an der Zerstörung, hatten viel Energie, die Menschenfeindlichkeit und den Hass in der Gesellschaft zu positionieren."
Der schwerbewaffnete Mann hatte auch versucht, sich Zutritt zu der Synagoge in Halle zu verschaffen, vermutlich entgingen sie nur knapp einem Blutbad.
Ein Mann hat in Hanau neun Menschen erschossen. Die Behörden gehen von einem rechtsextremen Hintergrund aus. Zahlreiche Politikerinnen und Politiker zeigen sich erschüttert.
Wofür es sich zu kämpfen lohnt
Wie können wir unsere lebenswerte offene Gesellschaft schützen? Wie sie stärken gegen rechte Demagogen? Sie zukunftsfähig machen in Zeiten des Klimawandels und Corona. Auch darum geht es. Und um die Frage: Was macht Demokratie aus?
Michel Friedmans Antwort: "Wow, die Freiheit! Schauen Sie nach Belarus, schauen Sie auch nach China, nach Hongkong, schauen Sie auch nach Russland. Schauen in die ganze Welt, wo die Frage 'Was macht Freiheit so lebenswert?' dialektisch beantwortet werden kann von Menschen, die, wenn sie sagen was sie denken, getötet werden oder ins Gefängnis kommen oder gefoltert werden. Schauen Sie in die Türkei. Schauen Sie, wie schnell Demokratie sich auflösen kann. Demokratie bedeutet Sauerstoff für den Menschen, seine persönliche und politische Freiheit auszuleben. Grenzenlos? Weiß ich nicht. Aber so grenzenlos wie in keinem anderen Konstrukt, das wir bisher geschaffen haben."
Friedman und Welzer ist ein streitbares, aber auch tröstendes Buch gelungen: Sie liefern Argumente, fordern zum Widerspruch auf. Und sind dann am stärksten, wenn sie von sich schreiben. Wenn Friedman erzählt, wie er als staatenloser jüdischer Flüchtling in Deutschland landete, und Chancen bekam, aber auch Hass. Wenn Welzer, der aus einfachen Verhältnissen kommt, beschreibt, wie Bildung ihn gerettet hat. Warum wir uns glücklich schätzen können, hier zu leben.
Demokratie muss verteidigt werden
"Es ist eine Gesellschaft, die verzeiht", sagt Welzer. "Wir haben viele Biografien von Menschen, von denen man sagt: 'Der ist mal auf die schiefe Bahn geraten oder die hatte mal große Probleme.' Da gibt es einen Schul- oder Studienabbruch, Drogenproblematiken oder was auch immer. Aber wir haben sehr, sehr viele Biografien, die trotz Bruch eine zweite oder dritte Chance bekommen haben und das ist ein zivilisatorisches Merkmal einer Gesellschaft. Das ist fantastisch!"
"Also da bin ich kritischer", entgegnet Friedman. "Ich glaube, dass diese Gesellschaft bestimmten Gruppen nicht nur nicht verzeiht, sondern ihnen überhaupt nicht die Gleichberechtigung zuerkennt. Und in unserem Buch beginnen wir nicht durch Zufall mit dem ersten Kapitel über die Bildungsungerechtigkeit und ich will das mit großer Leidenschaft sagen: Die Bildungsungerechtigkeit ist die größte soziale Ungerechtigkeit aller Ungerechtigkeiten, weil sie letztendlich die gesamte Biografie eines Menschen determiniert."
Wenn heute wieder vor allem Elternhaus und Vermögen darüber entscheiden, was aus Kindern wird – dann ist auch das gefährlich. Weil es die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer teilt, anfällig macht für radikales Gedankengut. Demokratie aber lebt davon, dass sie gelebt wird – und verteidigt. "Selbst wenn ich direkt nicht betroffen bin von irgendeiner negativen Maßnahme oder negativen Entwicklung – rassistischer, ausgrenzender oder inhumaner Art – dann muss ich es trotzdem persönlich nehmen. Denn mein Selbstverständnis ist gebunden an diese Form von Gesellschaft und wenn diese Gesellschaft ihre eigenen Voraussetzungen missachtet, dann bin ich selbst getroffen und dann muss ich es persönlich nehmen. Und dann muss ich mich dafür einsetzen, dass es anders wird."
Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut!
Demokratie heißt: die Wahl haben. Streiten, Kompromisse finden. Das ist anstrengend. Aber: es gibt keine gute Alternative – für Deutschland.
"Ja, Leute, entspannt euch", sagt Friedman am Ende des Interviews. "Wir reden – was für ein Luxus!" Welzer entgegnet: "Ich sage ja, das ist ein seltsamer, in vielerlei Hinsicht seltsamer Mensch. Wir müssen jetzt echt Schluss machen!"
Beitrag: Nora Binder
Stand: 18.10.2020 23:35 Uhr
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