So., 05.03.23 | 23:05 Uhr
Der "Backlash"
Die neue Gewalt gegen Frauen
Ein Kabel, ein Kissen – Alltagsgegenstände, die zum Mordwerkzeug geworden sind. Gegen die eigene Frau. In Frankreich und in Deutschland: Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine Partnerin. Die Liste der Frauen – sie wird länger und länger. Jeden dritten Tag. "Das sind keine Einzelschicksale, oder private Dramen", sagt Camille Gharbi. "Es geht hier um ein gesellschaftliches Phänomen. Es zeigt sich ganz deutlich, dass es Teil eines Systems ist."
Gewalt gegen Frauen findet hinter verschlossenen Türen statt. Und öffentlich, im Internet – täglich, stündlich. Dass all dies zusammenhängt – da gibt es noch großen Aufklärungsbedarf. "Frauen werden deshalb angegriffen, weil sie Frauen sind", so die Juristin Leonie Steinl. "Es sind Vorstellungen von geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit, die hinter diesen Taten stecken – hinter sexistischer Hate Speech im Netz, hinter Vergewaltigung und auch hinter einer Trennungstötung in Gestalt eines Femizids."
Mehr Emanzipation, mehr Gewalt
Weltweit nimmt die Gewalt gegen Frauen zu, auch in westlichen Gesellschaften. Trotz fortschreitender Emanzipation – oder gerade wegen ihr? Gibt es den Versuch das Rad zurückzudrehen – einen "Backlash"? Ja, sagt die Autorin Susanne Kaiser: "Das bedeutet, dass Frauen auf der einen Seite unglaublich erfolgreich sind und so gleichberechtigt wie noch nie. Und dass genau dieser Erfolg und auch die Sichtbarkeit des Erfolgs aber dazu führt, dass sie mehr Gewalt erfahren. Dass mit Gewalt quasi genau das wieder rückgängig gemacht werden soll."
Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten
Die Pariser Fotografin Camille Gharbi will Vorurteile erschüttern: Frauenmorde sollen dort wahrgenommen werden, wo sie stattfinden: in der Mitte der Gesellschaft. Ihre Fotos erzählen Geschichten wie die von Marie Alice Dibon, eine international tätige Biotechnologin – erfolgreich, selbstbestimmt. Bis sie sich in einen Mann verliebte, der beginnt, ihr Leben zu kontrollieren. Ihre Leiche wird 2019 in der Oise gefunden, nachdem sie sich von ihm trennte.
"Jedes Jahr erscheinen wieder diese Zahlen und trotzdem ändert sich nichts", sagt die Fotografin. "Das zeigt, dass etwas nicht funktioniert. Und das hat ich mich dazu gebracht, mich mit Femiziden zu befassen. Um aus dieser ohnmächtigen Situation herauszukommen, diesen schrecklichen Befunden. Denn ich glaube, es gibt Gründe, warum sich die Dinge nicht ändern." Weil weder die Gesellschaft noch die Strafverfolgungsbehörden die gesellschaftlichen Strukturen hinter frauenfeindlicher Gewalt sehen.
Risikofaktor: Erfolg
Ein "Backlash": Das Phänomen beschreibt Susanne Kaiser jetzt in ihrem Buch. Es geht nicht nur um körperliche, sondern auch um psychische Gewalt und wirtschaftliche Abhängigkeit. Das zieht sich quer durch alle Schichten. Ein Risikofaktor sei, wenn Frauen erfolgreicher sind als Männer, sagt Kaiser: "Die Statistiken sprechen eine ganz eigene Sprache. Gewalt gegen Frauen steigt seit Jahren an, das können wir in der polizeilichen Kriminalstatistik sehen. Das sehen wir auch in anderen europäischen Ländern, also nicht nur in Deutschland – auch in Schweden beispielsweise, was immer so als ‚vorzeigefeministische Demokratie‘ herangezogen wird. Wir sehen es natürlich auch jeden Tag im Internet an Hasskommentaren und der dortigen, wirklich heftigen Gewalt gegen Frauen."
Eine kollektive Geschichte
Camille Gharbi hat Frauenmörder im Gefängnis fotografiert und interviewt. Um Muster, gesellschaftliche Strukturen zu erkennen. Es sind oft Männer, die selbst Gewalt erfahren haben und diese als Lösung sehen. Aber auch solche, die sich in ihrer Männlichkeit gekränkt fühlen, wenn die Frau selbst bestimmt, was sie tut.
"Wir sprechen meist von einer individuellen Geschichte, mit all ihren Besonderheiten", erzählt Gharbi. "Doch jede ist ein Teil der kollektiven Geschichte. Und sie spiegeln all die Probleme unserer Gesellschaft wider. Seien es Glaubenshintergründe, seien es Probleme mit Alkohol oder Drogen. Aber auch der Zugang zu Bildung und die Konstruktion von Männlichkeit. Zum Beispiel, dass Männer oft durch ihre Erziehung so geprägt sind, dass sie sich nicht ausdrücken, nicht über ihre Emotionen sprechen können."
Besonders betroffen von Hass im Netz: Politikerinnen und Aktivistinnen
Besonders das Netz ist für solche Männer attraktiv, die sich angesichts zunehmender Gleichberechtigung Macht zurückerkämpfen wollen. Ihre sexistischen und herabwürdigenden Botschaften treffen vor allem Politikerinnen und Aktivistinnen. Einige, die besonders harten Attacken ausgesetzt sind, haben ihre Erlebnisse für uns geschildert.
Vermeintlicher Kontrollverlust
So wollen die Männer Kontrolle wiedererlangen, weil sie meinen, sie stünde ihnen zu. Fortschritt so zurückdrehen, sagt Susanne Kaiser: "Das ist das Alpha-Männlichkeitsideal – dass Männer stark sein müssen, dass sie die Kontrolle haben, dass sie überlegen sind, dass sie die Entscheidungen treffen. Das heißt, wenn Männlichkeit so eng an Kontrolle geknüpft ist, dann macht es Sinn, dass gesellschaftlicher Kontrollverlust sozusagen eine ganz persönliche Sache wird."
Die Wurzel des Problems: Geschlechterungerechtigkeit
Doch es ist auch politische Strategie: trotz landesweiter Proteste wurde das Abtreibungsrecht in den USA gekippt, forciert von Rechtspopulisten und konservativen Kräften. Auch in Deutschland wirken religiöse und rechte Gruppen, die Frauen die straffreie Möglichkeit auf Abtreibung nehmen wollen. Gleichberechtigung werde von ihnen gezielt bekämpft, warnt die Juristin Leonie Steinl: "Und hier sehen wir eben, dass die Wurzel des Ganzen Geschlechterungerechtigkeit in unserer Gesellschaft ist. Das ist die gemeinsame Wurzel, und die muss angegangen werden, um letztlich diese Auswüchse davon in Form von Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen."
Die Weltgesundheitsorganisation nennt Gewalt gegen Frauen eine Epidemie.
Beitrag: Katja Deiß
Stand: 05.03.2023 23:05 Uhr
Kommentare