So., 05.02.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Versöhnungstheater"
Max Czollek über einseitige deutsche Erinnerungskultur
"Wir erleben eine Zeitenwende", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
"Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem", meinte Politiker Lars Klingbeil.
"Das setzt eigene Stärke voraus", so Scholz weiter.
"Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben", sagte Lars Klingbeil.
Führungsmacht – statt: Zurückhaltung? Eine Wende, die auch möglich wurde, weil wir uns vorbildlich erinnert; uns "versöhnt" haben: Mit Juden und Jüdinnen, mit der Vergangenheit. Willkommen im "Versöhnungstheater"!
"Auf einen Satz, auf einen Punkt gebracht, ist das Versöhnungstheater die Phase, in der die Infrastruktur der Erinnerung zum Ausgangspunkt für eine Neuerfindung Deutschlands wird", erklärt Max Czollek. "Und dann sagt man: Weil wir das Holocaust-Mahnmal gebaut haben, weil wir so erinnern, dürfen wir wieder stolz sein auf Deutschland, dürfen wir jetzt wieder einen Führungsanspruch beanspruchen. All das läuft mit Verweis auf die deutsche Erinnerungskultur.
Max Czollek: Lyriker, Publizist, jüdisch. "Versöhnungstheater" heißt sein neuer Essayband. Es ist eine radikale Kritik der Erinnerungskultur – und die Zustandsbeschreibung einer Gegenwart, in der die "Wiedergutwerdung" Deutschlands zum obersten Glaubenssatz geworden ist. Heimatministerien, Flaggenschwingen, Machtansprüche: all das ist wieder möglich im "Versöhnungstheater".
Ein zentraler Moment deutscher Erinnerungskultur: Willy Brandts Kniefall in Warschau 1970. Hatte man in den Nachkriegsjahren noch geschwiegen und Nazis Straffreiheit gewährt, folgt nun die Zeit der großen Wiedergutmachungsgesten. Den neuen Umgang mit der Schuld definiert Richard von Weizsäcker so:
"Wir suchen als Menschen Versöhnung. Gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann", sagte einst der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Gedenktafeln enthüllt, Stolpersteine verlegt – und mit ihnen der Grundstein des Erinnerns, bis heute. "Ersatzhandlungen" nennt Czollek das: Symbolisches Erinnern, um die deutsche Identität von der Vergangenheit zu entlasten. Aber keine echte Wiederherstellung von Gerechtigkeit.
"Ich habe mich gefragt: Welche realen Handlungen entsprechen eigentlich diesen symbolischen Handlungen? Und dabei ist mir aufgefallen, dass wir hier eigentlich eine Wiedergutwerdung, also die Inszenierung der Wiedergutwerdung ab den 70er Jahren erleben, der keine reale Wiedergutmachung zum Beispiel durch die Übernahme juristischer Verantwortung entspricht", sagt Autor Max Czollek.
Juden und Jüdinnen komme in diesem Skript eine ganz bestimmte Rolle zu: Die der Opfer. Aber möglichst versöhnlich sollen sie sein. Und allzeit Auskunft über Antisemitismus, Shoah und Israel geben.
"Das ist auch eine Begrenzung der Sichtbarkeit der realen jüdischen Vielfalt, die heute in Deutschland existiert", stellt Czollek fest. "Und diese Vielfalt ist ja eine sehr Spezifische, über die wir viele Dinge wissen. Zum Beispiel, dass 1989/90 folgende mehr als 200.000 Juden und Jüdinnen aus der zerfallenen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind. Juden und Jüdinnen sind also überwiegend Teil der Migrationsgesellschaft. Juden und Jüdinnen haben auch eine Erzählung, die abweicht von der deutschen Erinnerungserzählung. Nämlich der 8. Mai 1945: Die haben den Krieg gewonnen. Die wurden nicht aus Auschwitz befreit, die haben Auschwitz befreit."
Zentrales Ziel des "Versöhnungstheaters": Die Wiederermöglichung eines positiven Verhältnisses zur deutschen Geschichte. Für Czollek ist auch das neue Berliner Stadtschloss ein Symbol dafür: Eine Rekonstruktion der Residenz der Preußenkönige. Die ambivalente Geschichte ihrer Herrschaft: Überdeckt von Prunk, Barock-Fassade und christlicher Symbolik.
"Ein ganz wesentlicher Aspekt des Stadtschlosses und dieser ganzen Rhetorik der positiven Daten der Demokratiegeschichte, an die wir jetzt wieder erinnern sollen, ist, dass sie auf eine eigentümliche Weise mit der Geschichte der Shoah und der Erinnerung daran ganz ähnlich verfährt wie Gauland, wenn er Vogelschiss sagt: Dass sie nämlich davon ausgeht, dass der Nationalsozialismus und die Gewalt nur ein kleiner Aspekt in dem großen See der positiven deutschen Geschichte ist. Und wir sehen, dass diese Rhetorik verfängt, genau darin, dass man das Preußenschloss nicht mehr im Bewusstsein um die Gewalt, die Preußen mit seinem Militarismus und so weiter auch ermöglicht hat, baut, sondern als ein Stadtschloss, was jetzt einfach nur die Zierde der Berliner Innenstadt ist", sagt Max Czollek.
Das sei nur möglich durch die vorherige Errichtung von Gedenkstätten wie dem Holocaust-Mahnmal. "Containment-Effekt" nennt Czollek das: Die Eindämmung des Grauens, um Platz zu machen für die neue nationale Identität. Hier die schlechte deutsche Geschichte – dort die gute. Hier das Leid – dort der Glanz.
Zur Erzählung der "Wiedergutwerdung" gehöre auch, dass rechte Gewalt immer wieder zur bedauerlichen "Ausnahme" erklärt wird - statt zu der großen Gefahr für unsere Demokratie und Gesellschaft.
"Man redet sich seit Jahrzehnten den Mund fusselig darüber, dass es rechte, gewaltvolle Kontinuitäten gibt", sagt der Autor. "Aber wenn die dann sichtbar werden, dann sind alle überrascht. Ich erinnere nur an Angela Merkels Reaktion auf Hanau, ein Jahr danach, in einem Podcast, in dem sie sagte: Also an Hanau, Halle und der Ermordung von Walter Lübke haben wir gesehen, wie gefährlich rechter Terror ist. Und ich denke mir: Ja, und das wusstest du davor nicht, oder was? Ich meine, wie oft muss man das noch neu lernen, bis man nicht mehr überrascht ist davon? Und das steht ja in einem starken Kontrast dazu, wie zum Beispiel mit Fällen von Gewalt, die von Migranten oder migrantischen Menschen ausgehen, umgegangen wird. Weil von denen sagt man: die bedrohen diese Gesellschaft. Und ich glaube, diese in meiner Wahrnehmung schon etwas eigentümliche Art, Gewalt als Bedrohung wahrzunehmen oder eben als Ausnahme zu beschreiben, die wird mit erzeugt durch eine bestimmte Erzählung in der deutschen Erinnerungskultur: Wir haben gut erinnert. Deswegen kann das eigentlich gar nichts mehr mit uns zu tun haben."
Max Czollek geht es nicht darum, die Erinnerungskultur abzuschaffen. Sondern darum, sie ehrlicher zu gestalten und das hieße auch, die vielfältige postmigrantische Gesellschaft einzubeziehen, die Deutschland längst ist.
"Die Erinnerungskultur sollte darauf ausgerichtet sein, die Gegenwart so einzurichten, dass sich diese Vergangenheit nicht wiederholt. Weil dann geht es vor allem darum, dass wir gemeinsam daran arbeiten, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen nicht mehr verfolgt und umgebracht werden. Und in dem Leute insgesamt weniger Gewalt erleben oder vor ihr geschützt werden. Ich glaube, das wäre ein Ziel einer pluralen Erinnerungskultur, die sich vom Versöhnungstheater und der Ausrichtung an dem Bedürfnis nach Wiedergutwerdung eines Teils dieser Gesellschaft unterscheidet", sagt Max Czollek.
Beitrag: Jella Mehringer
"Versöhnungstheater" von Max Czollek (2023), 176 Seiten, 22 Euro.
Stand: 05.02.2023 18:01 Uhr
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