So., 05.02.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Liebes Arschloch"
Der neue Roman von Virginie Despentes über #MeToo und andere Zumutungen
Sie ist eine der wichtigsten Stimmen der französischen Literatur, gilt als radikal, unangepasst und provokativ: Virginie Despentes. Fünf Jahre nach ihrem Welterfolg mit "Vernon Subutex" ist sie zurück mit einem Briefroman. Eine Art Schreibblockade kam dazwischen.
"Ich hatte die Geschichte, die Konstellation, hatte allerdings Angst in den gleichen Ton zu verfallen wie bei 'Vernon Subutex'. Und deswegen hat es ein wenig gedauert. In dem Moment als die Idee kam, es in Briefen zu erzählen, löste sich die Blockade", erzählt Virginie Despentes.
Geschrieben hat sie den Roman während des Lockdowns. Wieder mit sicherem Gespür für aktuelle Themen: #metoo, radikaler Feminismus, Cybermobbing und Sucht. Die Feministin Despentes schreibt hier mit viel Empathie für einen Mann, der seine Macht missbraucht.
"Das ist nicht das erste Mal, dass ich aus der Sicht eines Mannes erzähle. Ich finde es interessant, beim Schreiben das Geschlecht abzulegen. Wir leben mit heterosexuellen Männern. Man kennt sie. Auf jeden Fall kann man sich vorstellen, was in ihren Köpfen so passiert", sagt Virginie Despentes.
Es geht um Oscar Jayack, einen sehr erfolgreichen Schriftsteller, alkohol- und drogenabhängig. Er hat sich aus der Arbeiterklasse herausgeschrieben. Als Kind ungeliebt, als Mann unattraktiv. Ein Starautor, der vollgedröhnt seine junge Pressereferentin immer wieder sexuell bedrängt.
"Ich finde, das ist etwas, über das wenig geredet wird: Drogen und Wahrnehmung. Welche Rolle spielt das bei der Tat, oder bei der Unmöglichkeit einzuschätzen, was man gerade tut, und wahrscheinlich nicht tun würde, wäre man nicht komplett zugedröhnt", erklärt Virginie Despentes.
Zoé Katana, die junge Pressereferentin, fühlt sich von den Arbeitskollegen im Stich gelassen, kündigt ihren Job beim Verlag und schreibt einen feministischen Blog in den sozialen Netzwerken. Darin macht sie öffentlich, was er ihr angetan hat. Oscar Jayack trifft ein Shitstorm.
"Ich identifiziere mich total mit ihm. Natürlich habe ich keine #MeToo Probleme. Ich hatte andere Probleme, schwierige Verhaltensweisen. Ich bin sehr jähzornig. Wenn man Menschen sucht, die ich zur Sau gemacht habe, dann findet man die. Also ich weiß sehr wohl, dass ich schwierig bin, wir alle sind das, glaube ich und das ist ungefähr die Idee dieses Buches", erzählt Virginie Despentes.
Oscar ist nach den Anschuldigungen gegen ihn so wütend auf alle Frauen, dass er sich eine herauspickt, um sie online zu haten: die berühmte Schauspielerin Rebecca Latté.
"Sie ist nicht nur alt. Sie ist dick, verlebt, hat schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück. Eine einzige Katastrophe", schreibt Oscar im Briefroman.
Auf diese Altersdiskriminierung reagiert die Filmdiva sofort. Sie schreibt zurück: "Liebes Arschloch…"
Liebes Arschloch, das ist auch der Titel des Brief-Romans. Wochenlang stand er in Frankreich auf Platz eins der Bestsellerliste. Virginie Despentes hat wieder einen Coup gelandet. Mit vielen Zwischentönen und unerwarteten Entwicklungen.
"Das stimmt, was mich interessiert – und das kommt in meinen Romanen immer wieder vor – das sind Freundschaften, die man nicht erwartet. Zwei Menschen, die sich am Anfang gar nicht verstehen, die so verschieden sind, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass sie am Ende Verbündete werden", sagt Virginie Despentes.
Während Oscar und Rebecca immer freundschaftlicher miteinander kommunizieren, erlebt Zoé, die junge Feministin, das Gegenteil. Purer Hass schlägt ihr im Netz entgegen. Sie wird depressiv, landet in der Psychiatrie.
"In Frankreich wird eine junge Frau, die sich im Internet feministisch äußert, schnell zum Opfer von Hass. Der ist sehr organisiert und sehr gewaltbereit. Natürlich landen nicht alle von ihnen in der Psychiatrie, aber ich sehe viele, die depressiv geworden sind. Und ich sehe, dass das systematisch ist", erklärt Virginie Despentes.
Rebecca nimmt mit Zoe Kontakt auf und gleichzeitig entwickelt sich ein Pakt zwischen ihr und Oskar entlang ihrer Drogenerfahrungen. "Meine eigentliche Geliebte war das Koks", schreibt Oscar.
Im Laufe der Geschichte finden sie ein gemeinsames Thema: sie wollen davon loskommen:
"Ich fühle mich prima, seit ich clean bin" schreibt Rebecca.
"Vielleicht wäre mein Verhalten nüchtern ein anderes gewesen", erzählt Oscar.
Virginie Despentes war selbst drogenabhängig: "Ich war ein bisschen älter als dreißig, als ich mit dem Trinken aufgehört habe. Es ist komisch, sich dabei neu zu entdecken – ich hatte ja schon sehr, sehr jung mit dem Trinken angefangen – und dann merkte ich, dass ich ein super schüchterner, ängstlicher Mensch bin. Das wusste ich bis dahin nicht."
Eine tiefgreifende Erfahrung, die sie, zwanzig Jahre später, zum Hauptthema ihres Buches macht. Denn das, was ihre Protagonisten mit den Drogen durchleben, ist symptomatisch für unsere Konsum-Gesellschaft.
"Das, was mich interessiert, ist die Sucht ganz allgemein. Was passiert, wenn man weiß, hier läuft was verkehrt, kann es aber nicht lassen. Das gilt für Drogen, Smartphones, für einige Beziehungen, und manchmal sogar für die Arbeit", sagt Virginie Despentes.
Virginie Despentes hat einen persönlich-politischen Roman geschrieben. Manchmal ein bisschen flach, und manchmal: genial.
Beitrag: Carola Wittrock
"Liebes Arschloch" von Virginie Despentes (2023), 336 Seiten, 24 Euro.
Stand: 05.02.2023 18:00 Uhr
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