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Sucht nach Wahrheit

Laura Poitras’ Kinofilm "All the Beauty and the Bloodshed" über die Künstlerin Nan Goldin

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"All The Beauty and The Bloodshed" - Laura Poitras über Nan Goldin | Bild: Laura Poitras; Praxis Films / Participant / HBO Documentary Films / Neon

»Es ist ein Problem, wenn man als Kind ständig hört: das ist nicht passiert, das hast Du nicht gesehen. Das hast du nicht gehört. Wie glaubt man sich da? Wie traut man sich selbst noch? Und wie zeigt man der Welt, dass man das erlebt hat, dass man das gehört hat? Deshalb mache ich Fotos. (Szene aus "All the Beauty and the Bloodshed")«

Nan Goldin, eine der ganz großen Künstlerinnen der Gegenwart, ihre Fotografien hängen weltweit in bedeutenden Museen, vom Guggenheim bis zum Louvre. Doch genau diese Museen hat sie in jüngster Zeit aufgemischt: als Aktivistin. Der Flashmob im Metropolitan Museum New York 2018 galt als Protest gegen die Kunst-Mäzene und Pharma-Industriellen: die Familie Sackler - begleitet von Filmemacherin Laura Poitras.

Drogen-Krise in Amerika

"Ich wollte es filmen, wie einen Blick "Behind the Scenes" und zeigen, wie klein diese Gruppe ist, die der Sackler-Familie so viele Schwierigkeiten bereitet. Man könnte denken, das sind Hunderte, die das organisieren, meistens sind es aber nur ein Dutzend", sagt die Filmemacherin.

Nan Goldin und die von ihr gegründete Aktivist:innengruppe P.A.I.N. kämpfen gegen einen mächtigen Feind, den Pharma-Riesen, der für die größte Drogenkrise der US-amerikanischen Gegenwart verantwortlich ist. Die milliardenschwere Eigentümerfamilie Sackler sponsorte die großen Museen der Welt, verewigte sich dort.

»Arthur Sackler bereichert die Kunstwelt seit vierzig Jahren mit Elan, Großzügigkeit und Intelligenz!«

"Angetrieben von Wahrheit und Gerechtigkeit"

Tatsächlich bereicherte sich Sackler. Sein Pharma-Unternehmen Purdue stellte das Medikament Oxycontin her, jahrzehntelang unter Verschleierung der Suchtgefahren. Die Folge: über eine halbe Million Drogentote in den USA. Der Film verfolgt Goldins Kampf gegen das "Artwashing".

"Nan ist angetrieben von Wahrheit und Gerechtigkeit. Wenn sie Ungerechtigkeit sieht, reagiert sie. Das treibt sie an! Sie wusste, dass der Sackler-Name in den Museen falsch war, dass das Blutgeld war. Der Name sollte keinen Platz auf den Wänden der Museen haben. Sie wollte sie zurückerobern, sie liebt Museen", sagt Poitras.

Wut, Trauer und Protest

Doch der Film erzählt auch von ihrer persönlichen Wut. Nach einer banalen Operation am Handgelenk verschreibt man Goldin das Schmerzmittel Oxycontin, die Folge: Jahrelange Abhängigkeit.

»Mein Leben drehte sich nur noch darum, Oxy zu beschaffen. Immer wieder zu zählen, zu zerstoßen und zu schnupfen. Das war ein Vollzeitjob!«

Goldin, deren Kunst begehrt ist, setzt die Museen mit ihrem Protest unter Druck: Und sie mobilisiert andere Oxycontin-Opfer.

»Mein Sohn wurde abhängig von Oxycontin und nahm schließlich Heroin. Nach 11 Jahren ist er an den Drogen gestorben. Sie haben ihn kaputt gemacht. Er starb alleine auf einer Toilette!«

"Diese Momente brechen dir das Herz. Lassen dich erstarren. Verfolgen dich. Und machen wütend, weil die Sacklers weit davon entfernt sind, je zur Rechenschaft gezogen zu werden", sagt Poitras.

Mächtige Gegner

"All the Beauty and the Bloodshed ” gewann den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig. Die Regisseurin scheut sich, wie Nan Goldin, nicht vor mächtigen Gegnern. So filmte sie zum Beispiel exklusiv die Enthüllungen von Edward Snowden und geriet dadurch selbst ins Visier der Geheimdienste.

"Als Edward Snowden mich kontaktierte und ich in diesem Zimmer in Hongkong mit ihm saß, das fühlte sich an wie im freien Fall. Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde. Ich hatte Angst, denn wir waren uns bewusst, dass wir den mächtigsten Regierungen der Welt ans Bein pissen. In meiner Arbeit geht es immer um Menschen, die bereit sind, alles zu riskieren", erklärt Poitras.

Systematisches Verleugnen

Poitras hat Goldin aber auch in ruhigen Momenten begleitet. Hat sie zu den eigenen Bildern sprechen lassen, den "Slideshows". Und so erzählt sie die Geschichte ihrer großen Schwester: Barbara. Die Eltern steckten sie weg, in die Psychiatrie, zu Pflegeeltern. Ein Kind, für das es keine Liebe gab.

»Die Polizei kam zu uns nach Hause. Mein Vater stand laut weinend auf dem Rasen vor dem Haus. Sie sagten zu meiner Mutter: ‚Wir haben ihre Tochter gefunden, sie hat Selbstmord begangen.‘ Und ich hörte, wie meine Mutter sagte: ‚Erzählen Sie den Kindern, es war ein Unfall!‘«

"Da hat es bei Nan "Klick" gemacht, sagt sie. Es geht ihr um dieses Verleugnen. Das Verleugnen in der Gesellschaft und innerhalb von Familien und wie zerstörerisch das ist. Nan sucht Wahrheit. Und da schließt sich der Kreis, denn ein Problem der Opioid-Krise in den USA ist, dass nie jemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde: das systematische Verleugnen", sagt Laura Poitras.

Wahrheit um jeden Preis

Die Dinge um jeden Preis ans Licht bringen, das treibt Nan Goldin und die Regisseurin an. "All the Beauty and the Bloodshed" ist natürlich Nan Goldins radikal-subjektivem Blick erlegen und genau deshalb so stark. Wie Nan Goldins Kunst eine unbedingte Suche nach Wahrheit und Schönheit.

Beitrag: Brigitte Kleine

"All the Beauty and the Bloodshed"
Regie: Laura Poitras (2022)
Kinostart Deutschland: 25. Mai 2023

Stand: 14.05.2023 23:42 Uhr

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