So., 14.05.23 | 23:30 Uhr
Das Erste
"Undemokratische Emotionen"
Star-Soziologin Eva Illouz über rechten Populismus und den Zustand Israels
Sie gehen immer noch auf die Straße: Konservative, Linke, Säkulare. Gemeinsam! Seit Monaten! Gegen die geplante Justizreform, gegen die ultrarechte Regierung Netanjahu.
Auf der anderen Seite: etliche Demonstrationen für die Regierung und ihren Plan, die Gewaltenteilung zu schwächen. Es geht ein Riss durch das Land. Er offenbart die tiefen Gräben, die es schon lange gibt. Auch zwischen Säkularen und Ultra-Religiösen. Staatspräsident Jitzchak Herzog warnt inzwischen vor einem Bürgerkrieg.
Nationalistischer Gottesstaat versus Demokratie
"Es gibt einen tiefgreifenden Kampf um den Charakter und die Zukunft Israels, darum ob es bleiben wird, was es war, nämlich eine sehr unvollkommene Demokratie, oder ob es sich zu einer Form von theokratischer Diktatur entwickeln wird", sagt Soziologin Eva Illouz.
Ein nationalistischer Gottesstaat versus Demokratie, um nichts weniger geht es, sagt Eva Illouz. Aus Sorge um ihre Heimat hat die französisch-israelische Soziologin ein Buch geschrieben. Darin dekliniert sie "Undemokratische Emotionen": Gefühle, die nicht nur in Israel, sondern weltweit rechtsnationale Populisten bei ihren Wählern gezielt aktivieren. Um Demokratien langsam sterben zu lassen.
"Was sie versuchen, ist, die Demokratie zu vampirisieren, sie auszusaugen, und sie wirklich ihres Inhalts, ihrer Kultur zu entleeren, um nur noch eine Fassade von Demokratie aufrechtzuerhalten. Um die Illusion zu wahren, dass nur sie wirklich das Volk vertreten würden," sagt Illouz.
Gefahr durch Anti-Demokraten
Für Eva Illouz ist Israel das Beispiel für eine gefährliche globale Entwicklung. Demokratisch gewählte Anti-Demokraten. Der Rechtspopulist Benjamin Netanjahu regiert mit radikalen Nationalisten, Rassisten, religiösen Fundamentalisten. Ihr Angriff auf den Obersten Gerichtshof sei Folge einer Politik, die niedere Gefühle nutzt.
Zum Beispiel bei den Mizrachim, den aus arabischen Ländern eingewanderten Juden. Viele unterstützen Netanjahu, sagt Illouz. Weil sie seit der Staatsgründung Benachteiligung erlebten und nicht in den Großstädten angesiedelt wurden. Während die aschkenasischen Juden, die vor allem aus Europa kamen, Privilegien hatten, in den Zentren wichtige Ämter besetzten. Dieses Gefühl des Ressentiments nutze Netanjahu gegen die aschkenasische Elite. Da ist egal, dass er selbst dazu gehört.
"Es gibt diese objektive Spaltung, wirtschaftlich, sozial und kulturell zwischen den Menschen, die in der Großstadt leben und gebildet sind, und den Menschen, die keinen Zugang zu höherer Bildung haben und außerhalb leben. Und diese große Spaltung, die tatsächlich existiert, wird von den populistischen Führern noch gefüttert. Sie nutzen sie, um Ressentiments zu schüren und am Kochen zu halten. Und so hat Netanjahu diese Gefühle, die Ressentiments der Mizrachim bis zum Maximum gesteigert", erklärt Eva Illouz.
Zwietracht als Ziel
Der Ministerpräsident eine sein Volk nicht, sagt Illouz, sondern schlage gezielt politisches Kapital aus der Zwietracht zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen.
"Ich kenne kein Land in der westlichen Hemisphäre, wo es so viele interne Spaltungen und Spannungen zwischen so vielen verschiedenen Gruppen gibt: zwischen Juden und Arabern, zwischen Juden europäischer Herkunft und Juden aus arabischen Ländern, zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen den Siedlern und den Palästinensern, die sie militärisch beherrschen. Sie haben also viele, viele Bruchlinien. Das macht sie zu einer Gesellschaft, die in einzigartiger Weise unter Druck steht", sagt Illouz.
Kein westliches Land erlebt so viel Spaltung
Für Illouz ist es die einzigartige Situation Israels, die besonders anfällig mache für "undemokratische Emotionen". Die Angst sei eine davon. Zunächst war sie auch ein Grund für die Staatsgründung. Die Angst vor einer Wiederholung der Shoah. Für Ben Gurion und viele Juden war Israel eine schiere Frage des Überlebens. Das Land ist umgeben von Feinden. Und regelmäßig Ziel von Angriffen. Die Angst vor Auslöschung sorge deshalb für bedingungslose Zustimmung der Bürger zu Verteidigungsmaßnahmen, sagt Illouz. Das Gefühl werde aber noch gesteigert, durch die Präsenz von Kameras, Polizei, Militär. Das suggeriere eine dauerhafte Bedrohung – und die wiederum rechtfertige das Beugen von Gesetzen.
"So eine Sicherheitskultur führt dazu, dass man ständig nach Bedrohungen Ausschau hält, dass man die Politik zugunsten des Ausfindigmachens von Bedrohungen ausrichtet und man alle verfügbaren Mittel einsetzt, um diese Bedrohungen auszuschalten. Ein Land, das die Sicherheit überbetont, wird fast immer die Menschenrechte vernachlässigen. Menschenrechte werden da als Luxus betrachtet, den man sich nicht leisten kann", berichtet Illouz.
Eine universelle Staatsbürgerschaft
Das zeige sich im Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung, deren Bürgerrechte eingeschränkt werden. Und in der Regierungspolitik, welche die besetzten Gebiete im Westjordanland annektieren will. Vor allem aber auch bei der Staatsangehörigkeit, sagt Illouz, die nach Ethnie und Religion gewährt wird und viele ausschließt, die im Land leben.
"In Anbetracht der Vielfalt der Gruppen und der Positionen Einzelner, besteht meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, damit all diese Gruppen zusammenleben können, in einer universellen Staatsbürgerschaft, die es in Israel bisher nicht wirklich gibt. Und die, wenn der Universalismus gut umgesetzt wird, dazu führt, dass man sich die Menschlichkeit der anderen Person bewusst macht und sie anerkennt", sagt Illouz.
Die Zurückhaltung Deutschlands
Doch um eine Lösung für ein friedliches Zusammenleben gehe es den meisten Demonstranten nicht, meint Illouz. Sie würden zwar für die Demokratie kämpfen, aber nicht unbedingt für universale Rechte. Und Deutschland? Dieser enge Freund Israels? Für Eva Illouz im Umgang mit Netanjahu gerade: viel zu zurückhaltend.
"Das Verhältnis der Deutschen zu den Juden hat mit der Geschichte der Deutschen zu tun, nämlich mit sich selbst, mit ihrer eigenen Geschichte. Zumindest Deutsche einer bestimmten Generation werden Juden immer um jeden Preis unterstützen, ohne zu verstehen, dass man, wenn man Israel wirklich unterstützen will, wenn man die Juden wirklich liebt, dafür sorgen muss, dass sie nicht gerade Selbstmord begehen, ohne es zu merken", sagt Illouz. Ein drastisches Bild, aber Eva Illouz‘ Buch ist eine präzise Analyse politischer Manipulation.
Beitrag: Grete Götze
Stand: 14.05.2023 23:42 Uhr
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