So., 28.02.21 | 23:05 Uhr
Das Erste
Ljudmila Ulitzkaja: "Eine Seuche in der Stadt"
Neues Buch als Parabel auf eine von Angst paralysierte Gesellschaft
Moskau Ende Januar, Anfang Februar. Für einen Moment scheinen die Angst und die Lethargie verflogen. Auslöser ist die Verurteilung des Kremlkritikers Alexej Nawalny. Gegen den unfairen Prozess ziehen Tausende auf die Straße und fordern endlich mehr Demokratie.
Russlands bekannteste Gegenwartsschriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja kritisiert das System Putin seit Jahren öffentlich und furchtlos.
"Ich mische mich politisch ein, weil ich nicht anders kann"

Die 78-Jährige hält sich selbst nicht für furchtlos. Sie sagt: "Ich mische mich politisch ein, weil ich nicht anders kann. Ich gehe in meinem Alter nicht mehr auf die Straße, um zu protestieren."
Das könnten die jungen Leute tun: "Und es sieht so aus, als hätten sie die Angst, unter der ihre Großeltern und Eltern gelitten haben, verloren.
Mir reicht es zu sagen, was ich denke und darüber zu schreiben."
Die Pest in Moskau 1939: Eine bislang unerzählte Geschichte
Über Gewalt und Einschüchterung; die Deformation von Menschen in einer Diktatur ist gerade ein neues Buch von ihr erschienen. Es ist von dramatischer Aktualität. Der Titel: "Eine Seuche in der Stadt". Eine unerzählte Geschichte, die sich tatsächlich 1939 in Moskau zugetragen hat:
Die Pest bricht aus, eine Krankheit, die Stalin 1938 für ausgerottet erklärt hatte. Mit dem Aufspüren der Kontaktpersonen wird der Geheimdienst NKWD beauftragt. Geräuschlos und effizient.

In ihrem Buch erzähle sie Geschichten über Menschen, "die in einer paralysierten Gesellschaft leben", so Ulitzjaka: "Da gibt es zum Beispiel einen Mann, der nach Hause kommt und ein schwarzes Auto vor der Tür sieht. Der Mann flieht, denn er kommt gar nicht auf die Idee, dass er 'bloß' in Quarantäne soll. Ein schwarzes Auto vor der Tür bedeutete 1939, der Geheimdienst holt dich ab, also: Haft oder Tod. Dann denunziert eine Genossin ihren Mann als Volksfeind, weil sie nicht weiß, dass auch er nur als Vorsichtsmaßnahme in Quarantäne soll. Einmal geht es nicht um Bestrafung, sondern um Schutz, und die Leute verstehen es nicht!"
Wenn die Pest ein Trost ist
Die Seuche offenbart die Krankheit des Systems, in dem Verrat Familien zerreißt und die Angst vor dem GULAG zum Selbstmord führt. Wo es keine Hoffnung auf Veränderung gibt, nirgends.
Das Buchmanuskript ist 40 Jahre alt und brandaktuell. Nicht die Pest, Corona hält auch Russland in Atem. Ulitzkajas Buch scheint wie eine scharfsichtige Parabel auf heutige Zustände:
"Die Angst, aus politischen Gründen misshandelt und getötet zu werden, war zu Stalins Zeiten größer, als an der Pest zu erkranken", sagt Ulitzkaja. "Am Ende meines Buches tröstet ein Mann seine Frau, indem er sagt: "Es war die Pest, Dina, nur die Pest." Gegen die Pest als Krankheit kann die Wissenschaft die Menschen inzwischen mit Antibiotika schützen. Aber gegen die Brutalität eines Staates gegenüber seinen Bürgern, gegen die politische Pest ist sie machtlos."
"Mir fehlt der Glaube, dass es überhaupt eine gute Staatsmacht gibt"

Mit Sorge beobachtet Ljudmila Ulitzkaja den Ausnahmezustand auf den Straßen Moskaus, die Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, den Ausbruch der neuen politischen Pest in ihrem Land.
1943 im Ural geboren, erlebte sie selbst die Tragödien des 20. Jahrhunderts, die Verhaftung des Großvaters, die Verfolgung der Verwandten: "Ich komme aus einer Familie, die sehr unter Stalin gelitten hat. Vielleicht fehlt mir deshalb der Glaube, dass es überhaupt eine gute Staatsmacht gibt. Auch denen, die auf Stalin folgten, ging es nicht um Demokratie, sondern um Macht. In der Brutalität dem Volk gegenüber unterschieden sie sich nur geringfügig."
"Die Menschen wollen jetzt ein selbstbestimmtes Leben"
"Putin ist ein Dieb", rufen die Demonstranten. War er nicht für viele ein Hoffnungsträger, als er von Jelzin die Macht übernahm und versprach, die Meinungsfreiheit zu schützen? Inzwischen lässt er politische Gegner verfolgen. Der eingeübte staatliche Terror scheint zurück zu sein.

Ljudmila Ulitzkaja findet klare Worte zur gegenwärtigen Situation ihres Landes: "Der Mann, der heute an der Spitze unseres Staates steht, gefällt mir nicht. Er ist ein Geheimdienstmann und so führt er das Land: brutal, unnachgiebig, ohne Empathie. Das Absurde daran ist, dass er selbst wie ein Gefangener seines Systems erscheint. Seine Politik ist für uns tödlich, selbst wenn er dem Land in den letzten 20 Jahren einige internationale Aufmerksamkeit verschafft hat. Die Menschen wollen jetzt ein selbstbestimmtes Leben. Das klagen sie nun ein. Und das ist gut so."
Ein Buch von dramatischer Aktualität
Die Welt verändere sich auf unvorhersehbare Weise. Wie? Das hänge von uns ab, schreibt Ulitzkaja in "Eine Seuche in der Stadt". Der Aufruhr auf Russlands Straßen ist derzeit wieder in Quarantäne. Obwohl…dieses Wochenende gedachten viele Russen des Kremlkritikers Boris Nemzow, der vor sechs Jahren in Moskau an dieser Stelle ermordet wurde.
Autorin: Gabriele Denecke
Stand: 01.03.2021 09:31 Uhr
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