So., 03.10.21 | 23:20 Uhr
Das Erste
Was wir filmten
Ostdeutsche Regisseurinnen blicken auf ein verschwundenes Land
Was für ein Glück, wenn Dokumentaristen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, um festzuhalten, was es so nie wieder geben wird. Etwa den letzten Sommer der DDR. Die Filmemacher Petra Tschörtner und Jochen Wisotzki zogen 1990 ein paar Wochen lang mit der Kamera durch den Prenzlauer Berg. Ein Heimspiel, sie lebten dort, kannten sich aus in den Kneipen und Straßen. "Uns war damals nicht bewusst, wie dieser alte, graue, putzabblätternde Prenzlauer Berg aussieht, bis wir das im Bild festgehalten haben", sagt Jochen Wisotzki, Co-Regisseur der 2012 verstorbenen Petra Tschörner, heute.
Betty Schiel: "Ich finde es wichtig zu sehen, wie vielschichtig das Leben war"

31 Jahre später gehört "Berlin – Prenzlauer Berg" zu einer Reihe von Filmen ostdeutscher Regisseurinnen und Regisseure, die im Kino ZAZIE in Halle gezeigt werden. Ausgewählt hat sie die Filmwissenschaftlerin Betty Schiel. Ostdeutschland war für die Frau aus dem Ruhrpott lange Zeit eine Terra incognita. Inzwischen kennt sie sich aus, auch wegen Filmen, wie "Berlin – Prenzlauer Berg": "Ich finde es wichtig zu sehen, wie vielschichtig das Leben war, auf das da geschaut wird", so die Filmkuratorin. "Und ich habe deswegen Kolleginnen, Kuratorinnen und Regisseurinnen gebeten, mir einfach zu sagen: 'Was sind die wichtigen Filme, die von Frauen entstanden sind nach 1990 und warum.'"
Plötzlich war alles möglich
Plötzlich gab es keine Zensur mehr bei Themen und Bildern – einfach festhalten, was passiert, war das Motto. Beispielsweise am letzten Abend vor der Einführung der Westmark. Junge Ostberliner feiern mit der Nationalhymne als Begleitmusik den Abschied von der DDR. Andere lassen ihren Frust über das, was kommt, vor der Kamera raus, wünschen sich schon jetzt die die Mauer zurück.
Jochen Wisotzki: "Unsicherheit, nicht nur Angst, sondern auch Trauer"

Ostdeutsche Stimmungslagen, für Westdeutsche unverständlich. Der Film wird nach ersten Aufführungen als larmoyant kritisiert. Jochen Wisotzki hält diese negative Konnotation für falsch: "Statt Larmoyanz könnte man das deutsche Wort Wehmut dafür in Anspruch nehmen. Ich glaube, dass so etwas nicht nur im Nachhinein in den Filmen drinsteckt, sondern, dass das auch in den Leuten steckte: Eine Unsicherheit, aber nicht nur Angst, sondern auch Trauer."
Tina Bara: "Lange Weile" und Genzüberschreitung in der DDR
Gesellschaftliche Umbrüche, abgebrochene Biografien, versteckter Rassismus und der Rückzug ins Private. Mit großer emotionaler Wucht erzählen die Frauen über ihr Leben in einem Land, das für manche, das langweiligste auf der Welt war. Der Film von Tina Bara trägt den gefühlten Zustand schon im Titel: "Lange Weile", was heißt: Viel Zeit und nichts los. Mit Anfang zwanzig kündigt sie der DDR die Gefolgschaft auf. Im Film spricht sie: "Ich war 21 und offiziell Studentin der Geschichtswissenschaft im Ostteil Berlins. Wenn ich irgendetwas wusste, so wusste ich, dass ich am falschen Ort, die falschen Gedanken studierte."

400 Fotos, die entstanden zwischen 1983 und 1989, hat Tina Bara zu einem Film montiert. Momentaufnahmen vom Leben in besetzten Wohnungen, einer bröckelnden Stadtlandschaft. Trotz der Tristesse wurde geliebt, gefeiert und sich gegen Unzumutbares mit Phantasie zur Wehr gesetzt: "Wir waren von einer grundsätzlichen Energie getrieben. Es musste immer was passieren – ob das eine Party war, ob das ein Ausflug war, ob das irgendwo ein Ausbruch war. Es ging immer auch so ein Stück weit um Grenzüberschreitung."
Inszenierungen in historischen Kostümen und völlig ohne. Schnappschüsse eines Treffens der Frauen für den Frieden – die Opposition brustfrei. Warum der Hang, sich ständig auszuziehen? In einer Gesellschaft wie die der DDR, uniformiert und durchorganisiert, war Nacktheit Anarchie.
Für Betty Schiel waren diese Filme eine Entdeckung: "Es war toll zu sehen, mit wie viel Schönheit und Jugend, Mut und Witz da agiert wurde, wie phantasievoll die Menschen da gelebt haben, aber gleichzeitig wie schwer das war, sich die Freiräume zu erkämpfen und das alles in dieser großen Verletzlichkeit, die sich aber öffnet. Und diese Wunde zu zeigen, das finde ich mutig."
Vier Tage Ostdeutschland im Hallenser Kino ZAZIE und viel Unerzähltes

Vier Tage Ostdeutschland gab es im Hallenser Kino ZAZIE kurz vor dem 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, mit sehr persönlichen Geschichten von Regisseurinnen aus drei Generationen. Am erstaunlichsten ist, wieviel Unerzähltes es nach 31 Jahren Wiedervereinigung in ihren Filmen noch zu entdecken gibt.
Wer diese Frauen sind und wie sie ihr "Ostdeutschsein" als Chance für einen anderen Blick auf unser Land sehen, erfährt man aus dem Buch "Was wir filmten", das im Oktober erscheint.
Autorin: Gabriele Denecke
Stand: 05.10.2021 12:01 Uhr
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