Sa., 27.10.18 | 16:00 Uhr
Das Erste
Engpässe in der Medikamentenversorgung

Rund 350 Milliarden Euro werden in Deutschland für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. Kaum ein anderes Gesundheitssystem auf der Welt kann da mithalten. Und dennoch sind viele Therapien in Kliniken und Krankenhäuser immer wieder gefährdet, weil dringend benötigte Medikamente oft wochenlang nicht lieferbar sind. Besonders betroffen sind dann Patienten, die in besonderem Maß auf das richtige Medikament in der richtigen Dosis zur richtigen Zeit angewiesen sind.
Die Liste mit schwer lieferbaren Medikamenten wird immer länger

Ein aktuelles Beispiel sind sogenannte Immunglobuline: Diese Medikamente werden aus Blutplasma von Spendern gewonnen und aufgearbeitet und bei Neuropathie, einer chronischen Nervenerkrankung, eingesetzt. Carstens Frers ist auf dieses Medikament angewiesen. Alle drei Wochen bekommt er im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf eine Infusion mit den Immunglobulinen. Diese halten seine Nervenerkrankung in Schach und verhindern, dass er wieder im Rollstuhl landet, so sein behandelnder Neurologe Prof. Tim Magnus. Bisher ist seine Therapie mit diesen Medikamenten gesichert. Doch der weltweit steigende Bedarf sorgt jetzt für Versorgungsprobleme. Es drohen Kontingentierungen und Rationierungen. Bis jetzt konnte nur dank des unermüdlichen Einsatzes von Apothekern des Uniklinikums, wie Dr. Michael Baehr, ein Lieferengpass verhindert werden. Die Klinik hat sich ein Kontingent für die nächsten zwei Jahre gesichert. Was danach passiert, kann keiner sagen. Dr. Michael Baehr ist an einer der modernsten Kliniken Deutschlands für den zentralen Arzneimitteleinkauf verantwortlich. Täglich versucht er, solche wichtigen Arzneien bei verschiedenen Pharmahändlern einzukaufen – und das weltweit.
Bedrohlicher Mangel bei lebenswichtigen Medikamenten

Doch immer öfter stoßen Ärzte und Apotheker an ihre Grenzen, weil wichtige Medikamente einfach nicht lieferbar sind. Dieses Problem trifft alle Patienten, egal ob im Krankenhaus oder in der öffentlichen Apotheke, Baehr. Er kämpft täglich darum, die benötigten Arzneien zu bekommen und momentan ist es wirklich brisant. Diese Situation ist Baehr in einem Industrieland wie Deutschland unverständlich. Für die Klinikapotheken bedeutet das einen enormen Mehraufwand. Dieses Problem hat in den vergangenen fünf Jahren dramatisch zugenommen und kostet den Apothekern jeden Tag ein bis zwei Stunden Arbeitszeit. Sie müssen Liefertermine koordinieren, weltweit nach den Ursachen für den Engpass recherchieren und nach alternativen Medikamenten mit den gleichen Wirkstoffen suchen. Derzeit betrifft es alle Arzneistoffgruppen, von der Standard-Infusion über Schmerzmittel bis hin zu lebenswichtigen Antibiotika. Gelingt es nicht, die entsprechenden Medikamente zu besorgen, werden die knappen Vorräte der Klinikapotheke möglichst gerecht auf die Stationen aufgeteilt, um die schlimmste Not zu lindern.
Lieferengpässe bei Medikamenten gefährden Leben
Ist ein Medikament auf längere Sicht nicht verfügbar, versuchen die Ärzte und Apotheker die Patienten mit Überbrückungstherapien zu behandeln, bis das Medikament wieder verfügbar ist. Glücklicherweise musste die Klinik noch keinen einzigen Patienten abweisen. Aber, wenn es so weitergeht, muss sich das Universitätsklinikum Alternativen überlegen. Diese werden aber nicht gleichwertig sein, sondern eher schlechter, so der Neurologe Prof. Tim Magnus.
Probleme in Pharma-Fabriken in Asien

Die Ursache der Probleme sehen Experten wie Volker Bahr, Pressesprecher des Pharmaunternehmens Medac in Hamburg, in dem wirtschaftlichen Druck auf pharmazeutische Hersteller. Für ihn haben bestimmte Ausschreibungen und Rabattverträge einen nicht unwesentlichen Anteil an der Entstehung von Engpässen. Um Kosten zu sparen und Rabattverträge auszugleichen, verlagern die Hersteller immer öfter die Produktion der Ausgangsstoffe ins Ausland – meistens nach Asien, so der Sprecher von Medac. Das Problem: Die Pharmaunternehmen sind dort meist von einem einzigen Hersteller abhängig. Wird hier eine Charge nicht freigegeben, zum Beispiel wegen Stromausfall oder Verunreinigungen, können in der Folge auch keine Arzneimittel geliefert werden.
Ein weiterer Grund: Qualitätsprüfungen können die Produktion stoppen. Präparate, die in der EU zugelassen sind, werden von Prüfern aus der EU kontrolliert. Wenn etwas mit den Präparaten nicht stimmt, darf dort nicht mehr für den europäischen Markt produziert werden.
Lieferengpässe führen zu Wucherpreisen

Ist die Produktion wieder angelaufen, bekommen aber nicht immer die Länder die Medikamente, die sie am dringendsten benötigen, sondern die Länder die dafür am meisten bezahlen. In der Praxis sieht die Situation so aus: Die Firmen bieten die wenigen Chargen auf dem freien Markt an. Wenn also ein Abnehmer in Portugal, Spanien oder Griechenland mehr bezahlt, gehen deutsche Kliniken leer aus, egal wie notwendig das Medikament benötigt wird. Der Pharmakologe Prof. Gerd Glaeske von der Universität Bremen kritisiert dieses Geschäftsgehabe schon seit langem und fordert Konsequenzen.
Forderung nach staatlichem Eingriff
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt zwar im Internet eine Liste mit nicht lieferbaren Arzneimittelen, doch da die Hersteller nicht verpflichtet sind, Lieferprobleme zu melden, ist die Liste nicht vollständig. So werden Ärzte, Apotheker und Patienten immer wieder überrascht, wenn ein benötigtes Medikament plötzlich nicht lieferbar ist. Der Pharmakologe Prof. Gerd Glaeske fordert daher, dass dies endlich gesetzlich geregelt werden muss und dass die Pharmaunternehmen verpflichtet werden müssen, nicht lieferbare Medikamente beziehungsweise Lieferengpässe rechtzeitig zu melden. Ärzte können so frühzeitig entsprechende Therapien ändern, um die Gesundheit der Betroffenen nicht zu gefährden.
Autor: Volker Ide (WDR)
Stand: 27.10.2018 16:09 Uhr