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Wie manipulierbar ist unsere Erinnerung?

In Deutschland ist die Zeugenaussage noch immer eines der wichtigsten Beweismittel vor Gericht. Dabei ist vielen Beteiligten längst klar: Aussagen von Augenzeugen sind eine sehr gefährliche, weil unzuverlässige Quelle für Richterinnen und Richter. Allein Dreiviertel aller Aussagen bei Verkehrsunfällen sind objektiv falsch. Nicht etwa, weil die Zeugen bewusst lügen. Sie erinnern sich nur falsch.

"Falsche Erinnerungen" sind im Gegensatz zur Lüge deshalb so gefährlich, weil der Zeuge oder Angeklagte sie aus voller Überzeugung dem Gericht weitergibt. Bis hin zu genauen Details "erinnert" sich der Beobachter an Abläufe, die es so nie gegeben hat. Wie entstehen die "falschen Erinnerungen" und welche Konsequenzen können sie haben?

Das Gedächtnis ist nicht objektiv

Bei Unfällen liegt es häufig an der komplexen Reizüberflutung und an der hohen Geschwindigkeit des Geschehens, dass sich Augenzeugen später falsch erinnern. Doch nicht selten liegt es auch an der Art der Befragung der Zeugen, dass ihnen "falsche Erinnerungen" regelrecht eingeredet werden. Deshalb werden deutsche Richter in freiwilligen Seminaren darauf trainiert, die richtigen Fragen auf die richtige Weise zu stellen. In Niedersachsen leitet Dr. Jens Rass das Programm und inzwischen hat die "falsche Erinnerung" mehr Stellenwert in seiner Arbeit erlangt als die Lüge. "Für Lügen haben wir Aussagenanalysen, die uns oftmals helfen können, herauszubekommen, ob dort jemand bewusst die Unwahrheit sagt, bei den 'falschen Erinnerungen' geht das nicht. Denn die Leute sind ja felsenfest davon überzeugt, die Wahrheit zu sagen."

Die Wormser Prozesse

In seinen Seminaren zeigt Jens Rass, der selbst Richter ist, wie schnell es auch unabsichtlich dazu kommen kann, dass Menschen sich an Dinge zu erinnern glauben, die sie nie erlebt haben. Eines der spektakulärsten Beispiele dafür sind die Vorgänge, die Mitte der 90er Jahre zu den sogenannten Wormser Prozessen führten. Alles begann damals mit dem Verdacht einer Mutter, dass ihr Ehemann die gemeinsame Tochter sexuell missbrauchen würde. Um diesen Verdacht zu überprüfen, ließ die Mutter das Kind von einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle Wildwasser e.V. befragen.

Merkwürdige Methoden

Zwei anatomische Puppen liegen aufeinander.
Seit den Wormser Prozessen sind anatomisch korrekte Puppen als Mittel zur Aufklärung von Kindesmissbrauch verboten. | Bild: NDR

Die von der Mitarbeiterin angewandte Befragungsmethode war damals anerkannt von einigen Therapeuten. Es wurden sogenannte "anatomische Puppen" benutzt, die auffällige primäre und sekundäre Geschlechtsteile aufwiesen. Nachdem sich auf diese Weise scheinbar erste Verdachtsmomente ergaben, wurden die Befragungen auf weitere Kinder ausgeweitet. Sie wurden dabei immer wieder bestärkt, zu erzählen und mit den Puppen nachzuspielen, was mit ihnen passiert sei. Das geschah offenbar in so suggestiver Weise, dass sich die Kinder alles Mögliche ausdachten, um die Erwartungshaltung der Fragestellerin zu erfüllen.

Das Drama nimmt seinen Lauf

Nach und nach wähnte die Beratungsstelle sich einem großen Kinderschänder-Ring auf der Spur und erstattete Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft. 24 Personen saßen infolge der Ermittlungen bis zu zwei Jahre in Untersuchungshaft, ihre Kinder (es waren weit über zehn) mussten deshalb ins Heim. Doch schließlich entpuppten sich alle Vorwürfe als haltlos. Richter Hans E. Lorenz erkannte bei seinen Befragungen, dass viele der Zeugenaussagen objektiv nicht stimmen konnten. Deshalb ließ er sie alle noch einmal überprüfen. Letztendlich wurden alle Angeklagten freigesprochen. Es wurde so deutlich wie nie zuvor, dass die Kinder "falsche Erinnerungen" hatten, die ihnen unabsichtlich mit einer ungeeigneten Befragungsmethode eingeredet worden waren. Sie hatten diese dann detailliert so wiedergegeben – obwohl nichts davon wirklich geschehen war.

Tragisches Ende trotz Freispruchs

Besonders tragisch an dem Wormser Fall: Die Kinder konnten auch nach dem Prozess nicht unterscheiden, was an ihren Erinnerungen wahr und was falsch war. Einige von ihnen wollten nicht mehr zurück zu den Eltern, die sie wegen ihrer "Erinnerungen" nach wie vor für ihre Peiniger hielten. Sie blieben freiwillig im Heim, in dem dann später acht von ihnen tatsächlich missbraucht wurden.

Seit diesem Fall hat sich einiges geändert in der deutschen Justiz: Die "anatomischen Puppen" wurden verboten und Gutachten müssen nach ganz strengen Kriterien erstellt werden, die explizit darauf achten, keine "falschen Erinnerungen" zu erzeugen.

Autor: Tom Ockers (NDR)

Stand: 07.12.2019 18:18 Uhr

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Sa., 07.12.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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