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Können Computerspiele das Gehirn verjüngen?

Wer rastet, der rostet! Diese Lebensweisheit bezieht sich nicht allein auf den Körper, sondern auch auf den Geist. Denn regelmäßige Bewegung hält nicht nur die Knochen stark, die Gelenke geschmeidig und den Kreislauf in Schwung. Bewegung sorgt auch dafür, dass das Gehirn fit bleibt, sich sogar geradezu verjüngt – eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes Gedächtnis. Und eine wissenschaftliche Erkenntnis, die sich erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat.

Spielend geistig fit bleiben

Eine ältere Frau steht vor einem Bildschirm und spielt ein Computerspiel. Eine Gruppe Seniorinnen sitzt auf Stühlen im Halbkreis um sie herum.
Serious Games beleben nicht nur den Alltag. | Bild: NDR

Bärbel Kukelies (82) spielt gerne am Computer. Vor 20 Jahren fing sie an mit der digitalen Jagd auf das "Moorhuhn". Heute spielt sie mit ihren Mitbewohnerinnen im Hospital zum Heiligen Geist, Abteilung "Wohnen mit Service". Die Damen, die alle zwischen 75 und 88 Jahre alt sind, "daddeln" mindestens einmal pro Woche. Über den großen Bildschirm im Gemeinschaftsraum flimmern aber keine Ego-Shooter oder Puzzle-Spiele. Es handelt sich um speziell für Senioren entwickelte Serious Games: also digitale Spiele, die nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung dienen. Die grauhaarigen Gamerinnen wollen damit ihr Gedächtnis auf Trab halten.

Spiele für reifere Erwachsene

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Bärbel Kukelies und ihre Mitbewohnerinnen auf ganz sanfte Art und Weise Sport treiben. Denn die Gamerinnen steuern die Spielkonsole mit dem Namen "Memorebox" mittels Bewegungen. Die fängt eine winzige Kamera über dem Bildschirm ein und rechnet sie fast in Echtzeit ins Spielgeschehen ein. Als erstes ist Bärbel Kukelies dran. Sie stellt sich vor den Bildschirm und wählt unter Anleitung eines freundlichen Avatars das Spiel aus. Arm hoch, Arm nach rechts, Arm runter, schon startet das Postboten-Spiel. "Dann wollen wir mal, Paulchen!" kommentiert die pensionierte Lehrerin. Auf dem Bildschirm fährt der digitale Postbote auf seinem Fahrrad los.

Die Szenerie eines Computerspiels. In der Mitte einer Straße fährt ein Postbote auf einem Fahrrad und verteilt Post.
Postbote Paul trainiert das Gedächtnis | Bild: NDR

Paulchen folgt der Straße mitten durch ein Wohngebiet. Links und rechts tauchen Briefkästen in gelb und blau auf. Die Spielerin bewegt den rechten Arm nach hinten, dort bewahrt Paul die gelben Briefe auf, und "wirft" den Brief im richtigen Moment nach links vorne, auf den gelben Briefkasten zu. Ein freundliches Pling zeigt akustisch an, dass die 82-jährige den richtigen Briefkasten erwischt hat. Um an die blauen Briefe zu kommen, muss die Spielerin mit dem linken Arm nach hinten greifen. Nach den ersten 20 Briefkästen muss es ein bisschen schneller gehen, dann stehen auch mal zwei Briefkästen nebeneinander, manchmal auch mit unterschiedlichen Farben. Ein paar Minuten lang klappern Postbote Paul und Bärbel Kukelies die Straße ab, werfen blaue und gelbe Briefumschläge nach rechts und links, in immer schnellerer Abfolge. Am Ende der Tour steht natürlich auch eine Wertung, mit einem Foto der "Hilfs-Briefträgerin" und goldenen Sternchen für besonders gute Leistungen.

Neben dem Postboten-Spiel befinden sich noch diverse andere Serious Games auf der "Memorebox": Motorradfahren mit Städte-Quiz zum Beispiel oder Kegeln. Sie alle zeichnet aus, dass die Bewegungen im virtuellen Raum mit relativ wenigen realen Körperbewegungen gesteuert werden. So kann man die Spiele sogar im Sitzen spielen.

Computerspiele sind gut fürs Gehirn

Professor Jürgen Gallinat, Klinikdirektor und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, untersucht die Auswirkungen von Computerspielen auf das Gehirn seit Jahren. In früheren Studien mit Jugendlichen stellten er und seine Kollegen eher zufällig fest, dass unter ihren Probanden diejenigen, die sehr viel am Computer oder auf Konsolen zockten, in bestimmten Gehirnregionen einen Volumenzuwachs hatten. In Nachfolgestudien zeigte sich der gleiche Effekt bei Senioren. Bestimmte Elemente von Videospielen, allen voran die simulierte räumliche Navigation, wirken sich demnach positiv auf den Hippocampus aus. Genau diese Gehirnregion ist für die Gedächtnisfunktion von zentraler Bedeutung.

Verjüngungskur für den Hippocampus

Schematische Darstellung des Gehirns mit Hippocampus.
Der Hippocampus ist unsere Gedächtniszentrale. | Bild: NDR

Der Hippocampus ist aber nicht nur wichtig für unsere Erinnerungsleistung. Er ist auch der Ort, an dem sich unser Gehirn verjüngen kann. Dass es diese Fähigkeit überhaupt besitzt, fanden Forscher erst in den 1990er Jahren heraus. Bis dahin war gängige Lehrmeinung, dass sich Nervenzellen im Gehirn nur während der embryonalen Entwicklung bilden. Verlören wir im Lauf unseres Lebens also "graue Zellen", beispielsweise durch ungesunden Lebenswandel, ließe sich der Verlust nie wieder ausgleichen.

Inzwischen haben Neurowissenschaftler herausgefunden, dass sich im gesunden Gehirn sogar bis ins hohe Alter bei Bedarf neue Nervenzellen bilden können. Genau wie neue Haut-, Blut-, Knochen- und Muskelzellen entstehen sie aus sogenannten adulten Stammzellen. Die befinden sich als Vorläuferzellen in den entsprechenden Organen oder Geweben und teilen sich bei Bedarf. Die so entstehenden neuen Zellen reifen dann zu ihrem endgültigen Zelltyp heran. Im Gehirn heißt dieser Prozess "adulte Neurogenese". Sie findet ausschließlich im Hippocampus statt und lässt sich offenbar gezielt ankurbeln.

Aktivität hält graue Zellen fit

Wie das funktioniert, untersucht das Team um Professor Gerd Kempermann. Der Neurowissenschaftler vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) untersucht, wie sich die adulten neuronalen Stammzellen stimulieren lassen. "Das Interessante am Hippocampus ist, dass die Neubildung von Zellen in Abhängigkeit von der Aktivität des Hippocampus stattfindet. Also irgendwie gibt es einen Mechanismus, der den Funktionszustand dieser Gehirnregion spürt, auf die Stammzelle wirkt und ihr sagt: 'Teile dich, es werden neue Nervenzellen gebraucht'."

Zwei Mäuse rennen auf einer Drehscheibe im Kreis.
Aktive Mäuse erinnern sich besser. | Bild: NDR

Das zeigten Professor Kempermann und seine Mitarbeiter in Versuchen mit Mäusen. Eine Gruppe wohnte in einem ganz normalen Mäusekäfig, mit ausreichend Futter, Wasser und ein paar Möglichkeiten, sich zu bewegen, zum Beispiel einem klassischen Laufrad. Die andere Gruppe lebte in einem "Erlebnis-Käfig". Dort standen ihnen zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung, etwa rotierende Platten aus buntem Plastik, verzweigte Gänge und Kletterseile. Die Auswertung ergab: Je mehr es zu entdecken gab, je neugieriger und aktiver eine Maus war, umso mehr neu gewachsene Nervenzellen fanden sich in ihrem Gehirn.

Ob sich Stammzellen im Hippocampus teilen und zu neuen Nervenzellen heranreifen, hängt also davon ab, wie viel wir erleben und wie viel wir uns bewegen. Denn die Koordination von Bewegung und die Navigation im Raum sind für das Gehirn komplexe Aufgaben, auch wenn wir das im Alltag meist nicht bewusst wahrnehmen.

Simulierte Bewegung hilft Menschen mit Einschränkungen

Jemand zeigt mit einem Kugelschreiber auf die Abbildung von zwei Gehirnen.
Bewegung im simulierten Raum sorgt für neue Nervenzellen. | Bild: NDR

Wer die Neubildung von Nervenzellen im Gehirn ankurbeln will, sollte sich also möglichst viel bewegen, ständig neue Erfahrungen suchen und lebenslang lernen. Das trainiert unser Gehirn am besten. Und trainierte Gehirne sind auch widerstandsfähiger gegenüber den Problemen, die im Alter vermehrt auftreten.

Doch gerade für ältere Menschen ist es oft gar nicht so einfach, aktiv zu bleiben. Viele leiden unter körperlichen Einschränkungen, die sportliche Betätigung oder auch schon einfache Spaziergänge erschweren oder unmöglich machen. Und genau in diesen Fällen sollen Serious Games wie die auf der Memorebox helfen. Denn die speziell gestalteten Computerspiele wirken auf das Gehirn genauso wie tatsächliche Bewegung, die räumliche Navigation wird aktiviert und das Gehirn so ausgetrickst.

Professor Gallinat hat am UKE in Hamburg Probanden untersucht, die regelmäßig solche Spiele spielen. Bei ihnen zeigt sich auf MRT-Bildern tatsächlich eine Vergrößerung des Hippocampus. Das heißt: Nach einer gewissen Trainingsphase zeigt sich eine Wirkung in genau den Bereichen des Gehirns, die für das Spiel relevant sind. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass man sein Gehirn mit Sudoku eben "nur" für Sudoku trainiert. Darum sollten Senioren bestenfalls unterschiedliche Spiele spielen, die unterschiedliche Effekte mehr oder weniger betonen.

Ein weiterer Vorteil von "Serious Games" ist, dass sie nicht nur "serious", also ernst sind, sondern auch Spaß machen! Und durch die Ranglisten wird auch das Belohnungssystem im Gehirn angeregt. Beides ist genauso wichtig wie der Effekt der Spiele auf den Hippocampus. Denn nur, wer mit Spaß trainiert, bleibt auch langfristig dabei.

Spiel, Satz und Sieg für Serious Games

Eine lachende ältere Frau von der Seite.
Computerspiel für Senioren: gut fürs Gehirn und gut für die Laune! | Bild: NDR

So wie Bärbel Kukelies und ihre Gamer-Gang. Die Zeit, in der sie das Spiel im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung spielten, sind längst vorbei. Heute spielen sie einfach, weil es Spaß macht. In Zukunft werden vermutlich immer mehr Senioren ihre Zeit nicht mehr mit Logikspielen oder Kreuzworträtseln verdaddeln, sondern mit Computerspielen ihr Gedächtnis trainieren.

Wissenschaftler vermuten inzwischen übrigens, dass sich das Spielen in der Gruppe nicht nur positiv auf das Gehirn auswirkt. Was die neuen Konsolen für ältere Menschen noch alles leisten können, wird derzeit in mehreren Studien untersucht.

Autorin: Julia Schwenn (NDR)

Stand: 09.12.2019 23:25 Uhr

Sendetermin

Sa., 07.12.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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