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Biotopverbund Bodensee – einfache Idee mit großer Wirkung

Was tun gegen den dramatischen Rückgang heimischer Vogelarten? Diese Frage stellt sich der Ornitologe Peter Berthold seit Jahrzehnten. Seine Antwort: ihnen wieder neuen Lebensraum geben.Am Bodensee, einer Gegend, in der 50 Prozent aller Flächen landwirtschaftlich genutzt werden, sind nicht nur Nahrung, sondern auch natürliche Lebensräume für Vögel knapp geworden. In der Hochburg des Obst- und Hopfenanbaus ist Berthold mit einer neuen Idee angetreten, wie sich das Vogelsterben beenden lässt. Der erste Schritt: die Umwandlung einer zehn Hektar großen Wiese in ein naturnahes Feuchtgebiet. Noch viele solcher "Oasen" in der Agrarlandschaft sollen folgen, um Vögeln und anderen Wildtieren wieder eine Zukunft zu sichern.

Warum verschwinden die Vögel?

Kleiber versteckt Haselnuss
Vögel wie der Kleiber brauchen Rückzugsräume und natürliche Nahrung, die sie in ausgedehnten Agrarlandschaften kaum finden. | Bild: WDR

Über Jahrzehnte hat Peter Berthold als Leiter des Max-Planck-Instituts für Ornithologie die Vogelbestände am Bodensee beobachtet. Von Jahr zu Jahr nahmen sie ab. Der Vogelkundler machte die intensive Landwirtschaft als einen der Hauptgründe für das Vogelsterben aus. Vögel brauchen natürliche Rückzugsgebiete wie Heckengürtel, blühenden Wiesen, Wasserflächen und Schilf. In solchen Nischen finden sie Nahrung und Nistgelegenheiten und können ihre Jungen aufziehen. Doch wo intensiv Landwirtschaft betrieben wird, fehlen solche Lebensräume meist. Durch den Einsatz von Unkrautvernichtern bleiben Randstreifen, die Ackerflächen begrenzen, immer öfter frei von Wildkräutern. Die Folge: Vögel finden weniger Samen und Früchte. Auch Insekten, auf die viele Vogelarten angewiesen sind, werden seltener. Seit den 1980er Jahren ist ihr Bestand um etwa 75 Prozent gesunken. Für insektenfressende Vogelarten ist das eine Katastrophe. Peter Berthold hat festgestellt, dass die Zahl der Vögel in Deutschland zwischen 1950 und 2015 um 65 Prozent gesunken ist.

Die Idee: neue Lebensräume für Vögel

In den 1980er Jahren schmiedete der Ornithologe erste Pläne, wie man den Rückgang der Vögel aufhalten könnte. Seine Idee: neue Lebensgrundlagen  schaffen. Doch es sollte bis zu seiner Pensionierung dauern. Erst dann fand der renommierte Vogelkundler die nötige Zeit, um sein neues Naturschutzkonzept auf den Weg zu bringen. 2004 legte er in seiner Heimatgemeinde Billafingen den Grundstein, indem er eine Zehn Hektar große Wiese in einen neuen Lebensraum für Vögel umwandelte. Der besteht aus einem großen Weiher, drei Inseln, Wiesen und einem Schilfgürtel. Der "Heinz-Sielmann-Weiher" wurde nach dem mittlerweile verstorbenen deutschen Tierfilmer Heinz Sielmann benannt, der mit seiner Stiftung für den Naturschutz 300.000 Euro für die Umsetzung bereitstellte. Schon bald zeigten sich erste Erfolge. Der Weiher mit dem angrenzenden Feuchtgebiet lockte Insekten an – Nahrungsgrundlage für viele Vogelarten. Viele teils seltene Arten kehrten zurück und pflanzen sich seitdem in dem neu gestalteten Lebensraum fort. Inzwischen bietet der Weiher fast 200 Vogelarten ein Zuhause.

Ein Netzwerk entsteht

Peter Berthold untersucht einen Teichrohrsänger
Eine Vogelzählung zeigt: Der Bestand selbst seltener Vogelarten erholt sich dank der neuen Biotope langsam wieder. | Bild: WDR

Peter Berthold war bereits bei der Realisierung seines ersten Weihers klar, dass ein einziges Biotop nicht ausreichen würde, um die Vögel in die ganze Region zurückzulocken. Der Heinz-Sielmann-Weiher sollte nur der Auftakt sein für etwas viel Größeres, ein Element von vielen: weitere Weiher, traditionelle Streuobstwiesen und Magerrasen. Bertholds Ziel: ein Netzwerk aus Biotopen, die maximal zehn Kilometer voneinander entfernt liegen. So haben Vögel und andere Tiere die Möglichkeit, von einer zur anderen Oase zu wandern. Je mehr Biotope es gibt, desto stabiler werden auch die Populationen der zurückgekehrten Arten. Mit Unterstützung von Gemeinden, Landwirten und anderen Mitstreitern ist es Peter Berthold und der Sielmann-Stiftung gelungen, Hundert neue Biotope an mehr als 36 Standorten in der Bodenseeregion zu schaffen.

Regelmäßige Vogelzählungen beweisen den Erfolg

Seit 30 Jahren zählt Peter Berthold die Vögel in seiner Heimatgemeinde Billafingen. Als Wissenschaftler will er genau wissen, wie sich die Bestände entwickeln. Frühmorgens spannt er große, für die Vögel unsichtbare Netze auf, um sie zu fangen. Jedes einzelne Tier untersucht und bestimmt er, bevor er es wieder freilässt. Die Ergebnisse bestätigen: Jedes Jahr wird die Liste der Rückkehrer länger. Über 80 Vogelarten, die vor Jahrzehnten aus der Bodenseeregion verschwunden waren, sind zurück. Für ihn ist das der Beweis, dass sein Naturschutzkonzept der vernetzten Biotope beispielhaft für ganz Europa sein kann.

Über die Landesgrenzen hinweg

Der Erfolg der neuen Biotope am Bodensee zeigt, dass möglich ist, den Vögeln etwas von dem zurückzugeben, was sie in der Agrarlandschaft verloren haben: Nahrung und Rückzugsorte. Für die Sielmann-Stiftung war der Biotopverbund Bodensee ein Experiment – und es ist geglückt. Peter Berthold will nun weitermachen und Zehntausend "Oasen" in ganz Deutschland schaffen.

Autor: Michael R. Gärtner (WDR)

Literaturtipp
Unsere einzigartige Vogelwelt:
Die Vielfalt der Arten und warum sie in Gefahr ist
Peter Berthold
Frederking & Thaler
ISBN 3954162733
222 Seiten
29,99 Euro

Stand: 17.10.2019 11:16 Uhr

Sendetermin

Sa., 12.10.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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