Sa., 04.05.19 | 16:00 Uhr
Das Erste
Die charismatische Stimme: Der Ton macht die Musik

Manche Menschen gelten als begnadete Redner – Barack Obama zum Beispiel oder Gregor Gysi. Auch der Apple-Gründer Steve Jobs konnte mit seinen Präsentationen die Massen begeistern. Aber wer denkt, bei den Reden dieser Persönlichkeiten käme es vor allem auf den Inhalt an, der irrt sich. Viel wichtiger als was ist, wie wir etwas sagen. Stimme und Tonfall entscheiden zu mehr als 50 Prozent, ob das Gesagte beim Gegenüber ankommt, behaupten Wissenschaftler. Was aber macht eine charismatische Stimme aus? Und kann man sie erlernen?
Mit charismatischen Stimmen beschäftigt sich Prof. Oliver Niebuhr von der Süddänischen Universität (SDU) in Sønderborg. Der Phonetiker ist überzeugt, dass er aus jedem einen besseren Redner machen kann.
Das Faust-Experiment – wer hat die charismatischste Stimme?

Gemeinsam mit Oliver Niebuhr haben wir uns ein Experiment ausgedacht. Dafür haben wir zwölf Freiwillige in unser Aufnahmestudio eingeladen. Die eine Hälfte von ihnen stellt unsere Probanden, die andere die Jury. Die Jury soll darüber entscheiden, wer von den Probanden die charismatischste Stimme hat. Für eine bessere Vergleichbarkeit sollen alle dieselbe Passage aus Goethes Faust lesen. Der Anfang des Dramas eignet sich gut, da es sich um eine expressive, hörerorientierte Rede handelt. Dabei gelten dieselben sprachlichen Prinzipien wie in einem Vortrag oder einer Rede heutiger Zeit, wie wir sie von Experten oder Politikern kennen. Die Jurymitglieder können die Sprecher nicht sehen und beurteilen nur die jeweilige Stimme. Dafür können sie ein bis zehn Punkte vergeben.
Formel für charismatisches Sprechen
Wie die "perfekte" oder besser gesagt "charismatische" Stimme klingt, hat Oliver Niebuhr eingehend untersucht. Dazu hat er hunderte Stimmen in 16 verschiedene Parameter zerlegt, wie Tempo, Rhythmus, Melodie, Lautstärke und Pausen. Dabei zeigten sich akustische Schnittmengen guter und schlechter Redner. In einem mehrstufigen Verfahren haben dann insgesamt mehr als 300 Hörer diese Parameter bewertet. Auf Grundlage dieser Daten hat Oliver Niebuhr eine Computersoftware entwickelt, mit der er das akustische Charisma jeder Stimme berechnen kann. Höchstwert ist 100. Doch wie aussagekräftig ist sein Score? Kann der Phonetiker damit die Ergebnisse unserer Jury vorhersagen?
Nach seiner Analyse sind unter den Probanden die drei Besten: Nina auf Platz 1 mit 64 Punkten, Freya auf Platz 2 mit 60 Punkten und Lukas auf Platz 3 mit 46 Punkten.
Und wie hat unsere Jury gewertet? Auch sie sehen Nina auf Platz 1 mit 47 Punkten, allerdings sind Platz 2 und 3 vertauscht. Lukas kommt hier auf Platz 2 mit 42 Punkten, Freya auf Platz 3 mit 38 Punkten. Bei den weiteren Plätzen von vier bis sechs sind sich die Computersoftware und Jury wieder einig.
Wie kommt es, dass Technik und Mensch die Stimmen nahezu gleich bewerten? Dafür hat der Phonetiker Niebuhr eine einfache Erklärung: Unsere Stimme ist ein sehr altes Kommunikationsmittel, viel älter als unsere Wortwahl, Wörter, Syntax und Grammatik. Deswegen habe der Klang der Stimme einen sehr direkten Zugang zu unserer Meinungsbildung, unseren Empfindungen und Entscheidungen, so Niebuhr. Seine Analysesoftware bildet also nur nach, worauf wir Menschen unterbewusst seit Jahrtausenden achten. Die richtigen Worte zu finden, ist gut – aber am Ende macht immer der Ton die Musik!
Ausgeprägte Sprachmelodie wirkt verführerisch

Wie kann eine Stimme überzeugen und sogar verführen? Auch das hat Oliver Niebuhr anhand von Reden berühmter Persönlichkeiten wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg und Apple-Gründer Steve Jobs analysiert. Einer der Schlüsselparameter ist der des Tonhöhenumfangs. Steve Jobs Sprechstimme umfasst zwei Oktaven, also 24 Halbtonschritte. Mark Zuckerbergs Stimme dagegen bleibt unter einer Oktave, er schafft nur 11 Halbtonschritte. Dadurch klingt Mark Zuckerberg deutlich weniger melodisch und somit monotoner als Steve Jobs. In Oliver Niebuhrs Test erreicht er 52 von 100 Charisma-Punkten, Steve Jobs 93,5 Punkte. Verführerisch wirkt auf uns vor allem eine sehr ausgeprägte Sprachmelodie. Charismatische Sprecher wie Steve Jobs wechseln dazu noch zwischen laut und leise, schnell und langsam, und sie setzen die richtigen Pausen.
Das Roboter-Experiment

Wie überzeugend Stimmen wirken, hat Oliver Niebuhr in einem weiteren Experiment getestet. Dafür hat er einen Roboter einmal mit den charismatischen Stimm-Merkmalen von Steve Jobs programmiert und einmal mit den eher durchschnittlichen Stimm-Merkmalen von Mark Zuckerberg. Auf dem Campus der Süddänischen Universität hat er dann mit über 100 Versuchspersonen, überwiegend Studierende, eine Experimentreihe gestartet. Die Probanden sollten dem Roboter zuhören: Er informierte sie über einen gesunden Lebensstil und gab Tipps, wie man gesundheitsfördernde Maßnahmen im Tagesablauf integrieren kann – wie zum Beispiel häufiges Treppensteigen oder die richtige Einstellung des Computerbildschirms. Während der Roboter Gesundheitstipps gab, maß er bei den Probanden den Blutdruck.
Was die Probanden nicht wussten: Es ging nur um die Stimme des Roboters. Welche Stimme – die Steve-Jobs-Stimme oder die Mark-Zuckerberg-Stimme – konnte die Probanden stärker von einem gesunden Lebensstil überzeugen? Um das zu überprüfen, durften sich die Probanden nach dem Experiment als Belohnung fürs Mitmachen zwischen Obst und Schokolade wählen. Das Ergebnis: Wenn der Roboter mit der Steve-Jobs-Stimme sprach, griffen fast 20 Prozent mehr zum Obst.
Navi-Experiment
Ob uns eine Stimme sogar wider besseres Wissen lenken kann, hat Oliver Niebuhr in einem weiteren Experiment überprüft. Dafür bat er 30 Probanden zu einer Testfahrt mit Navigationsgerät.
Die Route: Vom Hafen im dänischen Sønderborg zum Uni-Campus. Die Fahrer waren ortskundig, kannten also das Gebiet. Wie im Roboter-Experiment traten wieder die an Steve Jobs angelehnte und die an Mark Zuckerberg angelehnte Stimme gegeneinander an. Was die Testfahrer nicht wussten: Beide Stimmen versuchten, sie in die Irre zu führen. Der vom Navigationsgerät vorgeschlagene Umweg wurde über vier Eskalationsstufen immer größer.
Niebuhr wollte so untersuchen, bei welcher Stimme die Ortskundigen länger gehorchten. Das Ergebnis: Die Fahrer, die von der Steve-Jobs-Stimme geführt wurden, brachen das Experiment viel später ab als die Testfahrer, die von der Mark-Zuckerberg-Stimme geführt wurden. Knapp 27 Prozent der Fahrer mit "Steve-Jobs-Navi" hätten sogar überhaupt nicht abgebrochen, berichtet Niebuhr. Anders beim "Mark-Zuckerberg-Navi": Schon nach der ersten falschen Anweisung brach hier jeder Fünfte den Test ab, knapp die Hälfte nach der mittleren Eskalationsstufe.
Der Wissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass die Testfahrer mit dem "Steve-Jobs-Navi" die eigentlich falschen Anweisungen nicht als eine fehlerhafte Programmierung des Navigationsgeräts verstanden hätten, sondern als eine alternative Routenführung, um Baustellen, Staus oder Unfällen auszuweichen. Eine charismatische Stimme kann uns also nicht nur führen, sondern auch verführen!
Charismatische Stimme lernen

Was aber tun, wenn die eigene Stimme nicht ganz so überzeugend ist? Oliver Niebuhr entwickelt eine Software, mit der jeder das Charisma seiner Stimme trainieren kann. Irgendwann soll es sein Trainingsmodul als App geben. Mit der Beta-Version trainiert Niebuhr selbst. Vor zwölf Monaten kam der Professor nur auf 43 Punkte des Charisma-Scores. Mittlerweile erreicht er 85 Punkte.
Autorin: Nina Schmidt (hr)
Stand: 19.05.2019 19:01 Uhr