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"Die Welt wieder auf Augenhöhe betrachten"

Thomas Binder im Rollstuhl bei der Arbeit am Laptop.
Seit einem Verkehrsunfall ist Thomas Binder querschnittgelähmt. | Bild: WDR

Manchmal reichen Sekundenbruchteile – ein Unfall, und das Leben ist ein anderes. Verletzungen des Rückenmarks können zu Lähmungen führen und zwingen einen Menschen zu einem Leben im Rollstuhl. Doch ein Exoskelett kann helfen, den Menschen wieder aufzurichten, ihn wieder gehen und manchmal sogar Treppen steigen zu lassen. Thomas Binder hat es mit intensivem Training und einem starken Willen geschafft, wieder auf die Beine zu kommen.

Gehroboter – geht das?

Seit über vier Jahren ist Thomas Binder querschnittgelähmt. 2015 hatte er einen schweren Motorradunfall. Er kann seine Muskeln vom Becken aus abwärts nicht mehr ansteuern und bewegen. Durch ein Leben mit dem Rollstuhl veränderte sich der Alltag für ihn grundlegend, und viele Situationen muss der Ingenieur nun komplett anders angehen.  

Thomas Binder war immer sehr sportlich. Das ermöglicht ihm, wieder aus dem Rollstuhl aufzustehen, zumindest zeitweise. Durch ein Exoskelett, eine Art Gehroboter, ist es dem 29-Jährigen möglich, sich wieder ohne den Rollstuhl zu bewegen. Als einer der ersten nutzt er das Exoskelett auch im privaten Bereich und nicht nur zur Reha im Krankenhaus. Mit der Hilfe der Technik kann Binder wieder mit seinem Hund spazieren gehen, seinen Freunden auf Augenhöhe begegnen und sogar Treppen steigen.  

Endlich wieder stehen und gehen

Der Gehroboter umschließt die Beine passgenau mit Schienen und Motoren.
Das Exoskelett muss perfekt sitzen. | Bild: WDR

Bevor Thomas Binder losgehen kann, muss er das Exoskelett erst "anziehen". Von seinen Füßen bis zum Rumpf spannt er seinen Körper komplett in das System ein. Es ist wichtig, dass alles perfekt sitzt, damit er sich nicht verletzt. Denn Thomas Binder hat keinerlei Gefühl in seinen Beinen. Eine Uhr an seinem Handgelenk dient dem jungen Mann als Fernbedienung, mit ihr wechselt er zwischen den Modi aufstehen, stehen oder gehen. 

Wenn das Exoskelett perfekt sitzt, tippt Thomas Binder auf die Fernsteuerung, macht sich bereit und wird von dem System aus dem Stuhl gehoben. Dann schaltet er in den Gehmodus – doch er geht nicht selbst, er wird gegangen. Motoren an Knie- und Hüftgelenken übernehmen, was früher seine Muskeln geleistet haben: "Gerade am Anfang, als ich damit angefangen habe, war es ein ziemlich überwältigendes Gefühl, wieder zu stehen und zu gehen".

Einsatz von Exoskeletten in der Reha

Dr. Stefan Hobrecker im Interview.
Dr. Stefan Hobrecker unterstützte Thomas Binder. | Bild: WDR

Die Idee, Thomas Binder mit einem Exoskelett wieder auf die Beine zu helfen, kam von Dr. Stefan Hobrecker vom Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Duisburg. Doch nicht jeder Querschnittsgelähmte kommt als Kandidat für das Programm in Frage: Eine gute physische Verfassung ist eine entscheidende Bedingung, aber auch die Psyche spielt eine wichtige Rolle. Denn damit ein Patient das Exoskelett nutzen kann, bedarf es eines langen und intensiven Trainings. "Bei meinen ersten Versuchen in der Klinik hatte ich schon etwas Angst zu fallen", sagt Thomas Binder heute. An die ungewohnten Bewegungen musste sich der Patient erst mal gewöhnen, immerhin lernte er das Gehen komplett neu. Mit Krücken an den Armen balanciert er sich aus, der Oberkörper ist angespannt – das erfordert Kraft, Ausdauer und Mut.  

Nach jahrelangem Training hat Thomas Binder heute seinen Geh-Anzug voll im Griff. Das System steuert er mit Bewegungen seines Oberkörpers: Verlagert Thomas sein Gewicht auf das linke Bein, erkennt ein Neigungssensor im System den veränderten Winkel und löst den Schritt im rechten Bein aus. Danach verlagert er sein Gewicht zur anderen Seite und das linke Bein schreitet voran.  

Bewegung hält Herz und Kreislauf fit

Das Exoskelett hilft Thomas Binder nicht nur beim Stehen und Gehen, auch auf seine Gesundheit hat es einen positiven Einfluss. Die regelmäßige Bewegung hilft gegen viele Beschwerden, die durch das ständige Sitzen im Rollstuhl entstehen: Werden die Knochen in den Beinen nicht mehr benutzt, bauen sie sich mit der Zeit ab – das Gehen im Exoskelett wirkt diesem Effekt entgegen. Außerdem hält die Bewegung das Herz-Kreislauf-System fit, unterstützt die Verdauung und verstärkt die Durchblutung der Muskeln.  

Querschnittspatienten leiden zudem häufig an Schmerzen und Muskelkrämpfen. Studien zeigen, dass Exoskelette auch hier helfen: Patienten, die mit einem Gehroboter trainieren, brauchen weniger Schmerzmittel. Diese positiven Effekte zeigen sich auch bei Betroffenen, die ein Exoskelett nur als Hilfsmittel in der Physiotherapie nutzen.  

Eines kann die Maschine aber nicht: Die gelähmten Muskeln wieder aktivieren. Auch wenn Binder noch so sehr trainiert, seine Nerven sind irreversibel geschädigt. Selbstständiges Laufen wird nie wieder möglich sein. 

Ein Stück Freiheit

Thomas Binder geht gestützt von seiner Frau Treppenstufen abwärts.
Mit der Hilfe seiner Frau meistert Thomas Binder sogar Treppen. | Bild: WDR

Den Rollstuhl komplett ersetzen kann das Exoskelett nicht. "Im Rollstuhl bin ich schneller und sicherer unterwegs", sagt Binder – trotzdem erhöht es seine Lebensqualität. Auch seine Frau Franziska unterstützt ihren Mann bei seinem täglichen Lauftraining: Mit ihrer Unterstützung schafft er es sogar, Treppen zu steigen. Das System gibt dem 29-Jährigen neue, alte Freiheiten zurück – mit Einschränkungen. Denn alleine ist er nie mit dem Gehroboter unterwegs. Sollte er fallen, käme er ohne Hilfe nicht wieder auf die Beine.  

Ein Leben ohne Exoskelett kann sich Thomas Binder dennoch nur noch schwer vorstellen. Zwar kann er nicht mehr aus eigener Kraft laufen, die Welt sieht er aber trotzdem nicht mehr ausschließlich aus seinem Rollstuhl. Ein paar Stufen können ihn nicht mehr aufhalten. Dank Hightech schauen seine Mitmenschen nicht mehr auf Thomas Binder herab – sie begegnen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe. 

Autorin: Judith Schaller (WDR)

Stand: 22.11.2019 13:11 Uhr

Sendetermin

Sa., 23.11.19 | 16:00 Uhr
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Produktion

Norddeutscher Rundfunk
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