Sa., 03.11.18 | 16:00 Uhr
Das Erste
Risiko Alltag: Was unser Leben wirklich bedroht

Schon wieder ein Lebensmittelskandal, ein Terroranschlag oder ein Zugunglück. Es scheint, als wäre unser Leben ständig bedroht durch Ereignisse, über die fast täglich in den Medien berichtet wird. Wer allerdings genau hinschaut merkt schnell: Die Wahrscheinlichkeit ist extrem gering von einem Terroristen getötet zu werden oder am Rinderwahnsinn zu erkranken. Denn den wahren Risiken begegnen wir ständig in unserem ganz normalen Alltagsleben, oft unbewusst. Häufig schaden wir uns selbst, ohne es zu merken.
Die vier Volkskiller

Was unser Leben wirklich bedroht, sind oft die schleichenden Risiken. Dazu gehört nicht der plötzliche Tod durch einen Blitzschlag oder Flugzeugabsturz, sondern Rauchen, schlechte Ernährung, Alkohol und Bewegungsmangel. Diese Risiken werden auch als die vier Volkskiller bezeichnet. Sie machen fast 70 Prozent der vorzeitigen Todesfälle aus. Beispielsweise sterben an den Folgen des Rauchens jährlich 100.000 Deutsche. Das sind mehr als die Bilanz von Aids, Terroranschläge, Verkehrsunfälle, Mord und Selbstmord zusammengenommen. Am Blitzschlag kamen von 1998 bis 2014 insgesamt 59 Deutsche ums Leben. Das sind ungefähr drei pro Jahr.
Tod durch parfümiertes Lampenöl
Viele Bilder, die wir in den Medien sehen, sind beängstigend. Oft wird über Ereignisse berichtet, bei denen viele Menschen auf einmal ums Leben kommen. Auch über vermeintliche Gefahren werden wir ausgiebig informiert. Beispiel Rinderwahnsinn: In der Hochphase der BSE-Krise wurde unentwegt über die Krankheit berichtet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kündigte an, es könnten 300.000 Menschen daran sterben. Doch wie wenige tatsächlich dem Rinderwahnsinn erlagen, ist kaum bekannt. Laut Risikoforscher Prof. Gerd Gigerenzer sind an BSE – also der Creutzfeld-Jakob-Variante – in Europa innerhalb von zehn Jahren geschätzt 150 Menschen gestorben. Eine verschwindend geringe Zahl. Trotzdem berichteten die Medien unentwegt darüber.
Worüber damals kaum oder gar nicht berichtet wurde, ist der Tod von 150 Kindern. Sie tranken parfümiertes Lampenöl. Das Lampenöl sieht aus wie Limonade und riecht auch so. In Deutschland versuchte man über Jahre hinweg ein Warnetikett durchzusetzen. Doch die ganze Aufmerksamkeit der Presse ging auf den Rinderwahnsinn. Prof. Gerd Gigerenzer ist sich sicher: "Wären die Kinder an einem Tag gestorben, wäre die Hölle los gewesen." Da sie aber übers Jahr verteilt starben, nahm keiner diese Gefahr war. Heute ist parfümiertes Lampenöl in Deutschland verboten.
Selbstmord – unterschätztes Todesrisiko

Suizid ist ein Tabuthema. Es wird selten darüber berichtet und gesprochen. Dabei ist der Selbstmord – nach Verkehrsunfällen – die zweithäufigste Todesursache bei jungen Erwachsenen zwischen 15 und 25 Jahren. Pro Jahr nehmen sich rund 500 junge Menschen das Leben. Drei Viertel davon sind männlich. Ein Risiko, das viele Eltern laut Prof. Gerd Gigerenzer unterschätzen. Die Eltern sähen nur die Beziehung zwischen sich und den Kindern und unterschätzen die große soziale Abhängigkeit der Kinder von anderen Kindern, also der sogenannten Peergroup. Dabei spielt das Internet eine große Rolle. Denn der Drang und Druck ständig gefallen zu wollen und zu müssen, 24 Stunden am Tag, verstärkt sich.
Die iGEN-Studie aus den USA zeigt, dass sich junge Menschen durch das Internet zunehmend einsamer und unglücklicher fühlen, obwohl sie online vernetzt sind. Dabei wirken sich die Onlinekontakte nicht immer positiv aus. Cybermobbing ist auf dem Vormarsch. Zwar gibt es noch keine verlässliche Studie, die den Zusammenhang von Cybermobbing und Selbstmord belegt, doch laut einer Erhebung des Bündnisses gegen Cybermobbing e.V. hat jedes fünfte Cybermobbing-Opfer Suizidgedanken. Auch die Anzahl der Selbstverletzungen hat im Vergleich zu den Generationen vorher zugenommen. Für Prof. Gerd Gigerenzer ist das ein Warnsignal und Zeichen dafür, wie sehr die digitale Technik die Psychologie des Menschen beeinflussen kann.
Risiken des Lebens – als Unterrichtsfach
Um die wahren Risiken des Lebens richtig deuten zu können, benötigen wir Vergleiche. Sie helfen uns, die Vorkommnisse, Zahlen, Statistiken und Grenzwerte, die in den Medien kursieren, richtig zu interpretieren. Zum Beispiel die Schlagzeile, dass tödliche Hai-Attacken um 100 Prozent zugenommen hätten. Was sich als große Bedrohung anhört, ist in Wirklichkeit harmlos. Denn die Anzahl der tödlichen Hai- Attacken hatte sich nur von 6 auf 12 erhöht. „Es gibt kaum ein Raubtier, das weniger Menschen tötet als der Hai“, sagt Prof. Gerd Gigerenzer. Genau aus diesem Grund, sei es so wichtig, dass die Bevölkerung Statistiken, Hochrechnungen und Grenzwerte versteht. Der Professor plädiert deshalb für Risikokompetenz als Unterrichtsfach. „Das Ziel ist eine neue Generation, die das Wissen und den Willen hat, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen“, so Gigerenzer.
Autorin: Sonja Legisa (SWR)
Stand: 12.11.2018 20:20 Uhr