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Vogelschutz: So lotsen Menschen Zugvögel über die Alpen

Mit seinem skurrilen Aussehen gleicht der Waldrapp einem Fabeltier. Im 17. Jahrhundert ist der gänsegroße Vogel in Deutschland durch Bejagung ausgestorben. Einige Exemplare haben jedoch in Zoos überlebt und sich fortgepflanzt. Seit 2007 versuchen Tierschützer, Waldrappe an drei Standorten im Alpenvorland wieder auszuwildern. Die große Herausforderung dabei: Die Zootiere müssen lernen, die Route ins Winterquartier zu finden. Dabei brauchen sie menschliche Hilfe.

Der Kopf eines Waldrapps mit aufgestelltem Gefieder
Vom Aussterben bedroht: der Waldrapp. | Bild: WDR

Jedes Jahr das gleiche Bild: Mitte April klettern Tierpfleger in den österreichischen Zoos Rosegg und Wien zu den brütenden Waldrappen in die künstlichen Felsnischen. Sie entnehmen den Nestern die frisch geschlüpften Küken. Fortan leben 32 Jungvögel in einem Container im Wiener Tiergarten Schönbrunn. Dort werden sie rund um die Uhr von zwei jungen Frauen, Corinna Esterer und Anne-Gabriela Schmalstieg, gefüttert, gewogen und gehätschelt. Die beiden Mitglieder der Forschungsgruppe "Projekt Waldrappteam" prägen die jungen Vögel auf sich. Um als Ersatzmütter akzeptiert zu werden, kuscheln Corinna und Anne-Gabriela viel mit den Küken, reden mit ihnen und tragen dabei immer gelbe T-Shirts. Die Vögel sollen sie an ihrem Aussehen und ihren Stimmen wiedererkennen, ihnen vertrauen und überall hin folgen. Denn einfach freilassen kann man die Jungvögel nicht. Um auf sich gestellt überleben zu können, brauchen sie Training.

Zugvögel haben ihre Reiseroute "vergessen"

Waldrappe sind Zugvögel, die im Winter aus dem Alpenvorland nach Süden fliegen müssen. In Italien finden sie auch in der kalten Jahreszeit genügend zu fressen. Normalerweise lernen die jungen Vögel den Reiseweg von älteren Artgenossen. Doch seit vielen Generationen werden Waldrappe nur noch in Zoos gehalten. Das natürliche Verhalten ist verloren gegangen, die erwachsenen Tiere kennen die Route nicht mehr. Wenn die Auswilderung also gelingen soll, müssen menschliche Ziehmütter wie Corinna und Anna-Gabriela einspringen und den Küken beibringen, was ihre Vogeleltern "vergessen" haben.

Zieheltern sitzen mit Vögeln im Schoß vor Seenkulisse
Am Bodensee lernen die Waldrappe fliegen. | Bild: WDR

Tatsächlich zeigen die jungen Waldrappe im Herbst noch eine angeborene Zugunruhe, aber sie wissen nicht, wohin sie fliegen sollen. Nur: Wie bringt man den Vögeln bei, wo es lang geht? Das mussten die Mitglieder des "Waldrappteams" erst herausfinden. Das ehrgeizige Projekt ist der erste wissenschaftlich fundierte Versuch, eine ausgerottete Zugvogelart wieder anzusiedeln. Vom erfolgreichen Projektverlauf versprechen sich Vogelkundler einen Vorbildcharakter für die Erhaltung und Ansiedlung anderer bedrohter Zugvögel.

Ein Trainingslager für Vogelschüler

Sobald die jungen Waldrappe sich an die Ziehmütter gewöhnt haben und mit dem Flügelschlagen beginnen, werden sie an den Bodensee gebracht. Die Felsen an den Hängen nahe Überlingen waren einst Heimat der schrägen Vögel. In den Nischen haben sie bis zum 17. Jahrhundert in Kolonien gebrütet. Waldrappe galten damals als Delikatesse. Da sie wenig Scheu vor Menschen zeigten, waren sie leichte Beute für Jäger. Aus diesem Grund starben sie in freier Natur aus.

Heute stellt den Vögeln in Deutschland niemand mehr nach – außer Touristen. Rund 2.500 begeisterte Besucher kommen jedes Jahr im Sommer ins Trainingscamp der Waldrappe und lassen sich die Aufzucht erklären. In dem Feldlager aus Zelten und Wohnwagen gewöhnen Anne-Gabriela und Corinna die Jungvögel an ihre neue Heimat. Mit etwa sieben Wochen können Waldrappe fliegen. Aber sie büxen nicht aus, sondern kommen immer wieder zu ihren Ziehmüttern in den gelben T-Shirts zurück. Die Nächte verbringen sie in einem kleinen Gehege, damit Füchse, Marder und Milane ihnen nicht schaden können.

"Kommt, kommt, Waldis"

Im Juni beginnt die nächste Lektion. Um den Vögeln die herbstliche Zugroute beizubringen, müssen Corinna und Anne im Ultraleichtflieger vorwegfliegen. Zunächst setzen sich die Ziehmütter stundenlang in diese "Seifenkiste mit Propeller", damit die jungen Waldrappe das Gefährt in Ruhe erkunden und sich daran gewöhnen können.

Eine Ziehmutter streckt ihre Hand nach einem fliegendem Waldrapp aus
Beim Jungfernflug bleiben die Ziehmütter in der Nähe der Vögel. | Bild: WDR

Sie sollen lernen, dass ihre Ziehmütter im Flieger sitzen, und ihnen folgen, wenn sie darin vom Boden abheben. Beim ersten Flugversuch ist den Flugschülern das Gerät allerdings nicht geheuer – besonders, als der Motor anspringt und sich der gelbe Gleitschirm entfaltet. Wochenlang starten die Frauen zweimal täglich und rufen die Vögel mit dem eingeübten Kommando: "Kommt, kommt, Waldis, kommt, kommt." Die vertrauten Stimmen und die gelben Shirts sollen die Waldrappe locken und ihre Skepsis vor dem Ultraleichtflieger schwinden lassen.

Tausend Kilometer in die neue Heimat

Bevor die Crew um den Initiator, Ornithologen und Piloten Johannes Fritz zum abenteuerlichen Flug über die Alpen ansetzt, bekommen alle Vögel noch kleine Rucksäcke umgeschnallt. In ihnen befinden sich Datenspeicher und Sender. Auf diese Weise erhalten Anna-Gabriela und Corinna wichtige Informationen über das Flugverhalten ihrer Schützlinge und wissen auch jederzeit, wo sie sich aufhalten. Schließlich startet der Tross mit zwei Ultraleichtfliegern, denen die Vögel im Konvoi folgen. Mit gut vierzig Kilometern pro Stunde geht es nun in Richtung Süden, über die Alpen. Die Tagesetappen sind bis zu hundertfünfzig Kilometer lang, und das zum Teil in 3000 Metern Höhe. Die Vögel lernen bei diesem ersten Flug ihre lebenslange Zugroute kennen, ihr innerer Kompass wird für immer gestellt. Ob sie sich dabei an Landmarken, dem Sonnenstand oder dem Erdmagnetfeld orientieren, ist den Wissenschaftlern noch nicht bekannt.

Sichere Landung im Winterquartier

Fliegende Waldrappe vor der Alpenkulisse
Die Waldrappe sind auf dem beschwerlichen Weg in die Heimat. | Bild: WDR

Je nach Witterung landen Vögel und Menschen nach zehn bis vierzehn Tagen am Zielort, der Lagune von Orbetello in der Toskana. In dem WWF-Schutzgebiet sind die Vögel sicher. Dort werden sie noch einige Wochen lang in einem kleinen Gehege von ihrer Ziehmutter gefüttert, damit die Zugunruhe erlischt und die Waldrappe sich diesen Ort als ihr künftiges Winterquartier einprägen. Sie bleiben nach dem Jungfernflug zwei bis drei Jahre in Italien, bis sie geschlechtsreif werden. Erst dann werden sie, so der Plan, allein zum Bodensee zurückziehen. Das wird frühestens 2020 der Fall sein. An ihrem Zweitwohnsitz in der Toskana treffen die Neulinge auf bereits ausgewachsene Artgenossen, die das "Waldrappteam" in den Jahren zuvor im bayerischen Burghausen und dem österreichischen Kuchl ausgewildert hat.

Gefährlicher Heimflug

Im Frühling machen sich die ausgewachsenen Waldrappe in Italien auf den Weg, um in ihr Auswilderungsgebiet zurück zu fliegen. Die Vögel aus Burghausen nehmen Kurs auf Bayern. Sie sind auf der eingeprägten Route nun ganz auf sich gestellt. Über die Sender auf dem Rücken können die Waldrappforscher nachvollziehen, wer wann und wo unterwegs ist. Die größte Gefahr für die Vögel stellen nach wie vor nicht isolierte Strommasten und Vogeljäger in Italien dar. Sechzig Prozent aller Todesfälle sind auf illegale Abschüsse zurückzuführen. Das "Waldrappteam" betreibt in Italien intensive Aufklärung und arbeitet auch mit der örtlichen Polizei zusammen.

Zum Glück kehren Jahr für Jahr mehr Vögel gesund zurück. Die Waldrappe aus Burghausen suchen nun schnell Nistmaterial und beginnen in den künstlichen Nisthilfen an der Burgmauer mit Balz und Brut. Im Herbst werden sie dann ihren Nachkommen die Zugroute nach Italien selber beibringen.

Erst wenn an den drei Standorten Burghausen, Überlingen und Kuchl bei Salzburg jeweils vierzig erwachsene Vögel leben, sollen die von Menschen geführten Migrationsflüge eingestellt werden. Dann wäre das einzigartige Experiment geglückt: ehemals ausgestorbenen Zugvögeln eine neue Chance in der Freiheit zu geben.

Autor: Herbert Ostwald (WDR)

Stand: 15.08.2020 12:50 Uhr

Sendetermin

Sa., 12.10.19 | 16:00 Uhr
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Norddeutscher Rundfunk
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