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Zahnspange: Wird unnötig häufig und zu lange "geklammert"?

Ein Kind bei einer kieferorthopädischen Untersuchung
Umstritten: Braucht mein Kind die Zahnspange wirklich? | Bild: WDR

Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen bekommt in Deutschland irgendwann eine Zahnspange. Spaß macht das Drahtgestell im Mund sicher keinem: regelmäßige Besuche beim Kieferorthopäden, mitunter auch Schmerzen. Belohnt wird der Träger für die Mühen irgendwann mit geraden und hoffentlich auch gesunden Zähne. Ein Gutachten, das das Bundesgesundheitsministerium 2018 beim unabhängigen IGES-Institut in Auftrag gegeben hat, weckt Zweifel daran: Spangen, so die Verfasser des Gutachtens, könnten Zahnfehlstellungen zwar wirksam begradigen, ob sie allerdings auch die Mundgesundheit langfristig verbessern, sei unklar. Der Grund: Es gebe bislang weltweit keine wissenschaftlichen Studien, die diese Annahme bestätigen. Ist die Zahnspange also vor allem ein Werkzeug zur ästhetischen Korrektur – und somit aus medizinischer Sicht in vielen Fällen unnütz?

Die Zahnspange: Alltag für viele Jugendliche

Neu ist die Kritik an der Zahnspange nicht: Bereits 2001 wies der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen auf eine im internationalen Vergleich stark erhöhte Anzahl von kieferorthopädischen Behandlungen in Deutschland hin. Während hierzulande rund die Hälfte aller Jugendlichen eine Spange erhält, liegt die Rate in anderen Ländern deutlich niedriger – in Schweden zum Beispiel sind es 27, in Großbritannien nur zwischen 12 und 18 Prozent. Wird in Deutschland also zu viel geklammert? Der Verband der deutschen Kieferorthopäden sagt dazu, dass der Gesundheitsstandard in Deutschland beneidenswert hoch sei, und dass es doch eine gute Nachricht sei, das jedem Jugendlichen ungeachtet seiner finanziellen Rahmenbedingungen eine Zahnspange bei schwerwiegenden Fehlstellungen finanziert werde.

Wann zahlen die Krankenkassen?

KIG-Grafik
Fehlstellungen werden durch die Kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) bewertet. | Bild: WDR

Ab welchem Schweregrad die Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland für die Behandlung von Zahnfehlstellungen aufkommen, legt das System der Kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) fest: Kategorie 1 steht für eine leichte Fehlstellung, Kategorie 5 für die stärkste Ausprägung. Ab Kategorie 3 zahlen die Kassen bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr eine kieferorthopädische Korrektur. Dabei müssen die Eltern zunächst 10 bis 20 Prozent als Eigenleistung zuzahlen und nur, wenn die Behandlung vollständig durchgeführt wurde, bekommen sie am Ende ihr Geld zurück. Es ist ein System, das durch das IGES-Gutachten nun ins Wanken gerät: Denn solange die wissenschaftlichen Belege für den gesundheitlichen Nutzen von Zahnkorrekturen fehlen, lässt sich auch schwerlich eine Grenze zwischen Leistungen ziehen, die die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen sollten, und solchen, die Patienten in Zukunft vielleicht selbst bezahlen müssen, weil es sich um rein ästhetische Korrekturen handelt.

Klammern ohne Ende

Kieferorthopäde Alexander Spassov
Kieferorthopäde Alexander Spassov gehört zu den wenigen Kritikern des eigenen Berufsstandes. | Bild: WDR

Alexander Spassov gehört zu den wenigen Kieferorthopäden, die sich kritisch zur Praxis und dem Selbstverständnis des eigenen Berufsstandes äußern. Er sieht sich von den Schlussfolgerungen des IGES-Instituts und den Beobachtungen des Sachverständigenrats bestätigt. 1,1 Milliarden Euro geben die Krankenkassen jährlich für kieferorthopädische Leistungen aus. Beispiele für Übertherapie kennt Spassov viele: Zum Beispiel bei seiner 13jährigen Patientin Anne-Kathrin. Bevor sie zu ihm wechselte, wurde sie bereits sechs Jahre kieferorthopädisch behandelt – erst mit einer losen, später mit einer festen Spange. Die Therapie begann bereits am Milchgebiss. Anne-Kathrin litt unter der Spange, schämte sich in der Schule, hatte Schmerzen, schlief schlecht. Dennoch führte der Kollege die Behandlung fort. Für Spassov sind dies Qualen, die Anne-Kathrin so nicht hätte erleiden müssen: Vor allem der frühe Start der Therapie und der langjährige Einsatz der losen Spange waren seiner Meinung völlig unnötig.

Die lose Spange hilft nicht

Momentan ist es Standard, das Milchgebiss mit einer losen Spange zu behandeln, um die spätere Zahnkorrektur vorzubereiten. Doch die lose Spange nützt nichts, stellte das Cochrane-Netzwerk bereits 2007 fest. In einer Studie aus dem Jahr 2004 verglichen Forscher zwei Patientengruppen miteinander: Bei der ersten Gruppe startete die Behandlung mit einer losen Apparatur am Milchgebiss, später folgte dann eine feste Spange. Bei der zweiten Gruppe begann die Therapie erst am Dauergebiss, dann aber direkt mit einer festen Spange. Überraschenderweise schnitten beide Gruppe gleich gut ab. Der Verzicht auf die lose Spange hat also keinen Nachteil. Im Gegenteil: Den Patienten wurden einige Jahre unnützer Therapie erspart.

Zu lange Behandlungsdauer

Grafik zur Behandlungsdauer durch Zahnspangen neben einem Plastikgebiss mit fester Zahnspange
In Deutschland dauert die Zahnspangenbehandlung zu lange. | Bild: WDR

Oft wird in Deutschland außerdem insgesamt zu lange behandelt. Im Durchschnitt dauert eine Behandlung zwei bis drei Jahre. Dabei zeigen Studien: länger als 20 Monate bringt nichts. Der Berufsverband der deutschen Kieferorthopäden rechtfertigt die lange Therapiedauer damit, dass sie sich aus verschiedenen Modulen wie Vorbehandlung, fester Spange und Nachbehandlung zum Korrekturerhalt zusammensetze, und die eigentliche Therapie daher doch der empfohlenen Therapielänge entspreche. Doch überprüfen lässt sich diese Aussage derzeit nicht. 

Die Krankenkassen fordern als Reaktion auf das IGES-Gutachten, dass endlich aussagekräftige Studien zum gesundheitlichen Nutzen durchgeführt werden und danach die Richtlinien angepasst werden – doch das kann noch dauern. Bis dahin empfiehlt Alexander Spassov verunsicherten Eltern, den Kieferorthopäden folgendes zu fragen: "Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es, was sind die Vor- und Nachteile, wie steht es also um die Dauer, Risiken und Erfolgsaussichten, und die dritte, entscheidende Frage: Was passiert mit meinem Kind, wenn wir es nicht behandeln? Welche Folgen gibt es oder eben nicht?" Und: Die Entscheidung für oder gegen eine Spange kann in Ruhe, ohne Zeitdruck, gefällt werden. Zahnfehlstellungen sind keine lebensbedrohliche Erkrankung.

Autor: Max Lebsanft (WDR)

Stand: 17.10.2019 12:08 Uhr

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