Fr., 21.12.18 | 05:00 Uhr
Das Erste
Zeitgefühl: Wie tickt unsere innere Uhr?

Mal bleibt sie stehen, mal vergeht sie wie im Flug, mal zieht sie sich wie Kaugummi. Wie Menschen Zeit empfinden, ist höchst subjektiv und hängt nicht nur davon ab, was wir gerade machen, sondern auch, in welchem Lebensabschnitt wir uns befinden. Gemeinsam mit dem Psychologen Dr. Marco Walg erforscht [W] wie Wissen ein spannendes Phänomen, das wir alle täglich erleben: Warum tickt unsere innere Uhr mal schnell und mal langsam? Und lässt sich das Zeitgefühl aktiv beeinflussen?
Zeit-Experiment: warten oder spielen?

Um herauszufinden, warum Menschen Zeit so unterschiedlich wahrnehmen, haben wir 14 Teilnehmer aus unterschiedlichen Altersgruppen zu einem Zeit-Experiment in eine Düsseldorfer Schule eingeladen: Männer und Frauen, Schüler und Schülerinnen, Senioren und Seniorinnen. Damit der Test funktioniert, müssen alle Teilnehmer ihre Handys und Uhren abgeben und bekommen stattdessen Attrappen, kleine Uhren-Tattoos für das Handgelenk. Wie werden die Probanden die gemeinsamen Minuten wahrnehmen, wenn sie die Zeit nicht mehr messen können?
Zeitforscher Marco Walg möchte überprüfen, welche Rolle die Art der Beschäftigung für das subjektive Zeitempfinden spielt. Eine Gruppe muss draußen vor der Türe warten, während sich die andere Gruppe die Zeit mit einem Spiel vertreiben darf. Ein Teil der Probanden wird also gut unterhalten – der andere ist zu vollkommenem Nichtstun verpflichtet. Am Ende stoppt Marco Walg die verstrichene Zeit und bittet die andere Gruppe wieder herein. Dann sollen alle Teilnehmer ihre gefühlte Zeit notieren. Die Spanne ist tatsächlich enorm. Je nachdem, ob die Gruppe ohne Beschäftigung warten musste – oder ob die Teilnehmer spielen durften, reicht die gefühlte Zeit von gut fünf Minuten bis zu einer Stunde. In Wirklichkeit warteten beide Gruppen knapp einundzwanzig Minuten. Woran liegt das? "Wenn ich an etwas Spaß habe, vergeht die Zeit relativ schnell. Anders ist es zum Beispiel bei der Emotion Traurigkeit. Wenn ich sehr traurig bin und sehr viel grübele, über mich selbst nachdenke, gar nicht mit meiner Umwelt beschäftige, wird die Zeit eher gedehnt und vergeht eher langsam", so der Zeitforscher.
Innere Uhr im Gehirn

Forscher gehen davon aus, dass unsere innere Uhr von verschiedenen Arealen im Gehirn zusammen gesteuert wird. "Die innere Uhr ist letztlich nur ein Modell, damit man sich besser austauschen, sich das Ganze besser vorstellen kann. Es gibt auch nicht die eine innere Uhr, denn an der Zeitwahrnehmung sind viele verschiedene Hirnareale, Körperteile beteiligt“, erklärt Psychologe Marco Walg. So weiß man, dass zum Beispiel Frontallappen, Basalganglien, Kleinhirn und Insula eine Rolle spielen. Wie schnell die Zeit vergeht, hängt vor allem vom Grad der physiologischen Erregung ab. Warten wir etwa aufgewühlt auf einen Krankenwagen, kommen uns zehn Minuten wie eine halbe Stunde vor. Verbringen wir dagegen einen entspannten, gleichförmigen Urlaub, vergeht die Zeit eher schnell.
Zeit-Paradoxon

Auch die Stärke der Emotionen beeinflusst das Zeitempfinden. So bleiben Momente, in denen wir extrem aufgeregt sind, eher in der Erinnerung und kommen uns hinterher länger vor. Auch in Extremsituationen, die mit der Ausschüttung von Adrenalin verbunden sind, nehmen wir die Zeit anders wahr – fast wie in Zeitlupe. Etwa bei einem Autounfall, bei dem die letzten Sekunden vor dem Aufprall eine gefühlte Ewigkeit dauern. Der Grund: Bei Gefahr wird die Wahrnehmung geschärft, um schneller und besser reagieren zu können. Auch Bungee-Springer berichten im Nachhinein häufig von endlos langen Sprüngen, die in Wirklichkeit nur wenige Sekunden dauerten. Aktuelle Zeitwahrnehmung und erinnerte Zeit stimmen also nicht immer überein. Psychologen sprechen von einem ZeitParadoxon.
Zeitempfinden - eine Frage des Alters

Auch das Alter spielt eine große Rolle. Ungefähr mit zehn Jahren entwickeln Kinder eine zeitliche Vorstellung von ihrem Leben. Sie entdecken vieles zum ersten Mal, empfinden die Zeit intensiv und deshalb als lang. Als Erwachsener während der "Rushhour des Lebens" mit Familie, Beruf und vielen Terminen scheint die Zeit nur so vorbeizufliegen. "Es gibt Studien, die sagen, ab dem Alter von 30 Jahren hat man das Gefühl, die Zeit fliegt immer schneller. Wenn man sich daran erinnert, als Kind schienen einem die sechs Wochen Sommerferien nahezu endlos lange und heute vergehen sechs Wochen wie im Flug. Das liegt daran, dass Menschen Routine entwickeln", so Marco Walg. Später im Rentenalter nehmen die Routinen häufig noch zu, man kennt vieles schon, erlebt weniger emotionale Überraschungen. Die Folge: Die Zeit zerrinnt einem scheinbar unter den Fingern.
Wie lange dauern 50 Sekunden?

Wie gut Menschen bereits vergangene Zeitabschnitte einschätzen können, möchte Marco Walg mit einem zweiten Test herausfinden. Dabei müssen die Versuchsteilnehmer ein bestimmtes Zeitintervall, das er per Gongschlag vorgibt, reproduzieren. In diesem Fall: 50 Sekunden. Wer glaubt, die vorgegebene Zeit ist abgelaufen, soll aufstehen. Auch hier gibt es Unterschiede, denn auch kurze Zeitintervalle empfindet nicht jeder gleich. "Es ist so, dass Menschen, die etwa sehr gut auf ihre Körperempfindungen hören können, die zum Beispiel meditieren oder Leistungssportler sind, sich mit Zeit beschäftigen, dass die hier die Zeit relativ gut einschätzen können, erklärt der Zeitforscher.
Unser Experiment hat gezeigt: Zeit ist mehr als das Messen von Stunden und Minuten. Sie kann tröpfeln oder rasen – und manchmal vergeht sie wie im Flug. Doch auch wenn die meisten Menschen das Gefühl haben, die Zeit läuft ihnen weg, eigentlich haben wir genug davon. Es kommt nur darauf an, was man mit ihr macht.
Autor: Boris Geiger (BR)
Stand: 11.09.2019 23:02 Uhr