Interview mit Günter Berg
Herausgeber der Werke von Siegfried Lenz und Vertreter der Lenz-Erben

Der Verlag Hoffmann und Campe hat die Veröffentlichung des Romans "Der Überläufer" 1951 abgelehnt. Angeblich würde sich Siegfried Lenz "maßlos schaden", der Verlag müsse den jungen Autor vor sich selber schützen. Woran lag es wirklich?
Vermutlich wollte der damalige Lektor Dr. Otto Görner den Verlag schützen, mit dem Argument, es habe eigentlich keine Deserteure oder Überläufer gegeben. Und wenn, dann sollte man darüber besser Stillschweigen bewahren. Der Roman beginnt im Sommer 1944. Wer in den letzten Kriegsjahren die Augen öffnete, der konnte sehen, wofür diese deutsche Sache noch taugte. Siegfried Lenz erörtert im Roman weidlich, dass die Wehrmachtssoldaten Walter Proska und Wolfgang Kürschner nicht ohne Not ihre Uniform wechseln. Sie stehen vor der Alternative, entweder exekutiert zu werden oder zur Roten Armee überzulaufen. Dieser Schritt mag einem Landser-Kodex widersprechen, nicht aber der Vernunft und der Einsicht vieler Soldaten am Ende eines sinnlosen Krieges. Offenbar war das im Nachkriegsdeutschland ein großes Problem. Es war die Zeit von Konrad Adenauer und Peter Alexander, das Kino, das Radio, die Magazine malten eine möglichst rosige Zukunft, jeder Blick zurück wurde tunlichst vermieden. Für den "Überläufer" war die Zeit überhaupt noch nicht reif. Nachdem sich Otto Görner im Verlag rückversichert hatte, dass man mit dem Thema nichts zu tun haben möchte, ergriff ihn fast Panik. In einem Brief beschwor er Lenz: Sie tun sich keinen Gefallen, lassen Sie es!
Welche Folgen hatte die Ablehnung für Siegfried Lenz?
Sie waren für den sehr jungen Autor erheblich. Lenz traute sich diesen großen politischen Wurf nicht mehr zu, bis er Anfang der 1960er-Jahre an der "Deutschstunde" zu arbeiten begann. Was ihn bis dahin als Erzähler ungemein erfolgreich werden ließ, zum Beispiel die Geschichtensammlung "So zärtlich war Suleyken", nannte er selber einmal seinen "masurischen Exorzismus". Wunderbare Beschreibungen einer untergegangenen Welt, alle klopften ihm auf die Schulter, aber es war im Grunde nicht der Interview mit Günter Berg Herausgeber der Werke von Siegfried Lenz und Vertreter der Lenz-Erben Stoff, den Lenz bewältigen wollte. "Der Überläufer" hätte für sein späteres Werk, wäre der Roman kurz nach Kriegsende erschienen, vermutlich eine politischere Richtung vorgezeichnet.
Als Nachlassverwalter hüten Sie nicht nur das Werk, sondern vermitteln auch die Verfilmungsrechte. Was gab den Ausschlag im Bieterstreit um den "Überläufer"?
Tatsächlich lagen bald nach Erscheinen insgesamt neun Angebote vor, den Roman zu verfilmen. Ich habe mir Zeit gelassen und versucht, die richtige Wahl zu treffen. Es ging dabei am Ende nicht ums Geld. Die Summe für den Erwerb der Stoffrechte war für alle gleich. Aber ich wollte wissen: Was haben die Teams vor? Wie wollten sie umgehen mit diesem komplexen Stoff? Die Ideen des Produzenten Stefan Raiser und der Drehbuchautoren Bernd Lange und Florian Gallenberger besaßen nach meiner und auch der Ansicht der Siegfried-Lenz-Familie die meiste Substanz. Diese beiden deutlich jüngeren Menschen, die mit dem Nationalsozialismus nicht mal über ihre Väter verbunden sind, hatten genau begriffen, wie die Geschichte funktioniert. Darauf kam es uns an.
Warum ist das Werk von Siegfried Lenz bei Filmemachern so begehrt?
Es sind, erstens, gute Romane und Erzählungen. Zweitens hat Lenz früh einen Blick für die wesentlichen Probleme der deutschen Seele entwickelt: das Verfangensein in Machtstrukturen, der schwierige Umgang mit der eigenen Vergangenheit und der Schuld. In den allermeisten seiner Texte bricht etwas Extremes, etwas Unabwendbares in das Leben der Menschen ein. Lenz führt vor, wie Menschen in Konfliktsituationen handeln, nicht wie sie daherreden. Er ist nicht moralisch, der Autor urteilt nicht über seine Figuren, sondern er erzählt deren Geschichte. Das hebt ihn aus dem Kreis der gleichaltrigen Schriftsteller heraus.
Stört es Sie, dass der Film das Buch nicht bis ins letzte Detail adaptiert?
Im Gegenteil. Zum Beispiel verlängert der Film die Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten Walter und der polnischen Partisanin Wanda. Warum? Weil Lenz die Frauenfigur im Laufe der Erzählung quasi verloren hat. Das hätte ein Lektor gemeinsam mit dem Autor überarbeiten können. Was wir seit der Veröffentlichung des Romans 2016 lesen können, ist ein früher Beleg dafür, dass Lenz im Alter von 25 Jahren einen so gut wie fertigen Roman abliefern konnte. Das kann heute kaum ein Autor von sich sagen.
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