Interview

mit dem Produzenten Matthias Martens und dem Regisseur Kai Christiansen

Regisseur Kai Christiansen und Produzent Matthias Martens
Regisseur Kai Christiansen und Produzent Matthias Martens | Bild: NDR / Beate Waetzel

Otto Weidts Biografie ist eine fast unglaubliche Geschichte. Ein Blinder als Retter in der Not – Hollywood hätte sie nicht besser erfinden können. Und doch hat sie sich so zugetragen. Herr Martens, wie kommt es, dass der Name Otto Weidt in Deutschland bisher so unbekannt geblieben ist?

In der Tat, die Lebensgeschichte des Otto Weidt ist bemerkenswert. Eine Biografie, die von einem unerschütterlichen Menschenbild geprägt ist. Ein wahrhaft aufrechter Mensch. Oder, wie Inge Deutschkron immer sagt, "Otto Weidt war ein Mann, der in einer unmenschlichen Zeit Mensch geblieben ist." Wirklich unglaublich ist auch die Geschichte von der Postkarte, die unfrankiert und mit dem Hinweis versehen, der Finder möge die Karte doch bitte einwerfen, das Strafporto zahle der Empfänger, in Schlesien aus einem Deportationszug geworfen wird und die dann tatsächlich von jemandem gefunden und eingeworfen wird. Diese Karte also, die heute im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt liegt, hat Otto Weidt ja erst dazu gebracht, sich auf den Weg zu machen. Auf den Weg nach Auschwitz und später Christianstadt, um Alice Licht zu retten. Ich glaube, eine solche Geschichte wird selbst in der Traumfabrik Hollywood nicht alle Tage erdacht. Warum die Geschichte bisher eher wenig bekannt ist, kann ich nicht sagen. Inge Deutschkron erzählt sie seit Jahren – in ihren Büchern und an Berliner Schulen. Dass Otto Weidt und seine unglaubliche Lebensgeschichte nun auch hoffentlich vielen Menschen in ganz Deutschland bekannt wird, ist sowohl Inge Deutschkron als auch denen zu verdanken, die diesen Film möglich gemacht haben.

Wie sind Sie auf den Stoff gestoßen? Wann war die Idee da, daraus einen Film zu machen?

Die Geschichte wurde ursprünglich von unserem Kameramann Jan Kerhart an uns herangetragen. Wir dachten zuerst an eine Dokumentation. Nach der ersten Lektüre und ersten Gesprächen mit Inge Deutschkron war jedoch sehr schnell klar, dass diese Geschichte auch einen 90-Minuten-Film trägt und größer erzählt werden muss. Wir, Sandra Maischberger und ich, haben uns dann auf den Weg gemacht, Senderverantwortliche und später auch Förderer genau davon zu überzeugen.

In der Vorbereitungsphase der Stoffsammlung: Welche Quellen gab es, um das Leben des Otto Weidt zu rekonstruieren? Sind Sie bei Ihren Recherchen auch auf bislang unbekanntes oder unzugängliches Material gestoßen? Gab es noch Zeitzeugen (außer Inge Deutschkron), mit denen Sie sprechen konnten?

In erster Linie haben wir uns an Inge Deutschkron und ihre Erinnerungen gehalten. Schnell war klar, dass wir den Zeitraum der Geschichte, die wir erzählen wollen, eingrenzen müssen. Das ganze Leben Otto Weidts zu erzählen, wäre uns in der Form nicht möglich gewesen. Wir konzentrieren uns also auf die Zeit, die Inge Deutschkron als Zeitzeugin erinnert und von der sie uns erzählt. Unser Ansatz ist der der subjektiven Perspektive. Unser großes Glück ist, dass wir mit Inge Deutschkron eine Erzählerin haben, die man sich besser gar nicht hätte wünschen können. Und mit Sandra Maischberger hatten wir dann auch eine einfühlsame und sensible Gesprächsführerin, die es Inge bei den Interviews leichter gemacht hat, uns ihre teilweise sehr schmerzlichen Erinnerungen zu erzählen.

Herr Christiansen, Sie haben nicht nur Regie geführt, sondern zusammen mit Heike Brückner von Grumbkow auch am Drehbuch mitgeschrieben. Ab wann sind Sie in die Arbeiten zur Entstehung des Films eingebunden gewesen?

Das Drehbuch hat Heike Brückner geschrieben, zum Teil unterstützt von ihrem Mann, der Historiker ist. Die Entwicklung habe ich von Anfang an aus der Regieperspektive begleitet. Was wollen wir erzählen, aber auch was können wir erzählen? In das Drehbuch hatte Heike bereits Interviewpassagen von Inge Deutschkron eingebaut, da wir davon Abschriften hatten. Im Schnitt haben sich diese Interviewstellen dann komplett verändert. Inge Deutschkron hat ja eine sehr lebendige Art zu erzählen, und das mit den Szenen zusammen zu bringen, ja zum Teil über den Szenen weiterlaufen zu lassen, das kann man nicht genau vorher planen, das ergibt sich dann im Schnitt. Auch die Länge einer Szene ist immer wieder davon abhängig, was lassen wir Inge erzählen und wann übernimmt wieder die szenische Handlung.

Regisseur Kai Christiansen beim Dreh in der Blindenwerkstatt
Regisseur Kai Christiansen beim Dreh in der Blindenwerkstatt | Bild: NDR / Beate Waetzel

Was hat Sie an dem Thema besonders gereizt? Wo haben Sie als Regisseur bei der Geschichte besondere Akzente setzen wollen?

Zunächst einmal es ist eine der ungewöhnlichsten und berührendsten Liebesgeschichten, die ich kenne. Sie erzählt viel über die Zeit und ihre Umstände und sie hat viele interessante Charaktere, nicht zuletzt Inge Deutschkron, die dem Film nicht nur eine Wahrhaftigkeit, sondern eben auch einen ganz besonderen Witz gibt, der oft sehr befreiend ist, bei all der Dramatik der Handlung. Besonders interessant finde ich, dass es um Blinde geht. Der Film hatte für mich immer etwas sehr Haptisches. Auch wenn wir Bilder schaffen, hier geht es mir darum, die sinnliche Qualität des Begreifens und Betastens zu spüren. Das, finde ich, macht die Geschichte konkret und gut nachvollziehbar. Der Motor der Handlung war für mich das Dreieck Otto – Else – Alice. Darin steckt viel Sehnsucht und die unlösbare Tragik dieser Geschichte. Immer wieder glauben die Figuren, für einen Moment doch noch etwas Glück erhaschen zu können, dann entrinnt es ihnen wieder.

Herr Martens, der Film zeigt neben den Ausführungen Inge Deutschkrons historisches Bildmaterial. Welche dramaturgische Funktion haben die eingeschnittenen Archivaufnahmen?

Die historischen Archivbilder haben in erster Linie eine exemplarische, assoziative Funktion. Sie sollen das Erzählte grundsätzlich historisch einordnen und visualisieren.

Herr Christiansen, ein historischer Film braucht eine sehr genaue szenische Vorbereitung, um am Ende glaubhaft zu wirken. Wo haben Sie Ihre Drehorte gefunden? Haben Sie viel nachgebaut oder sind Sie an Originalschauplätze gegangen? Gab es die überhaupt noch?

Es gibt noch einige der Orte, aber keiner ist so, dass wir dort noch hätten drehen können. Die Blindenwerkstatt ist heute ein Museum und die Berliner Straßen sehen heute natürlich ganz anders aus. Die Werkstatt wurde von unserem Ausstatter in Goslar in einer alten Glasfabrik aufgebaut und zwar so, dass tatsächlich alle Räume, Treppenhaus etc. nebeneinander lagen. Die Schauspieler laufen also tatsächlich von Raum zu Raum nach draußen und zurück. Die Außenszenen sind Straßen in Potsdam, die umdekoriert wurden. Ja und der Schnee ist echt. Es hat einfach viel geschneit während der Drehzeit. Wichtig war mir, keine Computerbilder zu nutzen für diesen Film. In anderen Projekten halte ich das für durchaus sinnvoll, aber hier galt der Grundsatz, dass die Schauspieler, soweit es geht, alles anfassen können und nicht vor grünen Wänden spielen, auf die der Computer später den Hintergrund legt. Für die Außenaufnahmen sind wir u.a. in die Berliner Straße nach Potsdam Babelsberg gegangen. Hier wurde schon viel Historisches gedreht, u.a. der "Reichstagsbrand" und das "Hotel Adlon". Dummerweise wollte George Clooney dort zur selben Zeit für seinen "Monuments Men" drehen. Also hatten wir uns zunächst geeinigt, dass wir in einem ungenutzten Teil der Kulisse parallel mit ihm drehen. Am Ende brauchte er aber zuviel Platz, und wir haben außerhalb des Studiogeländes eine Straße in Potsdam umdekoriert. Aber nicht nur um Drehorte, auch um Kostüme mussten wir ringen, denn noch ein weiterer großer Hollywoodfilm, Wes Andersons "Grand Budapest Hotel", hatte seine Dreharbeiten parallel zu unseren, so dass beim Berliner Kostümfundus das große Feilschen um die Kleider begann.

Regisseur Kai Christiansen (Mitte) beim Dreh
Regisseur Kai Christiansen (Mitte) beim Dreh | Bild: NDR / Beate Waetzel

Herr Martens, Otto Weidt – was war das in Ihren Augen für ein Charakter? Aus welchen inneren Antrieben handelte er? Inge Deutschkron beschreibt ihn ja nicht nur als einen mutigen Regimegegner, sondern auch als einen Hochstapler. Ein Mann mit vielen Gesichtern also?

Für mich war Otto Weidt in erster Linie ein aufrechter Mensch. Einer, der sich nicht gebückt und weggedreht hat, als das Unrecht und der willkürliche Terror der Nazis immer mehr zur Tagesordnung wurden. Dass er darüber hinaus auch zutiefst menschliche Eigenschaften und Bedürfnisse hatte, macht ihn mir als Mensch umso interessanter und sympathischer.

Der Film erzählt eigentlich zwei Geschichten: Die Liebesgeschichte zwischen Otto Weidt und Alice Licht und die Geschichte der verfolgten Juden in Otto Weidts Blindenwerkstatt und sein Engagement für deren Rettung. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Einfühlung in eine Lovestory und der historisch reflektierten Erzählung?

Ich denke, das Eine ist nicht vom Anderen zu trennen. Im Mittelpunk steht der Mensch Otto Weidt. Inge Deutschkron erzählt uns von seinem Leben und seinem Verhalten. Den Autoren und dem Regisseur ist es gelungen, die wahre Liebesgeschichte, die Otto Weidt mit Alice Licht verband, dort sensibel zu interpretieren und weiter zu erzählen, wo Inges Erinnerungen aufhören – oder wo schlicht niemand dabei war.

Wie schwierig und aufwendig ist es heutzutage, Spielszenen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu stellen?

Die Kollegen von Ausstattung und Kostüm sind sehr erfahren und auch sehr penibel. Die Kostüme gehen weit über das hinaus, was man in dem Bildausschnitt von ihnen sieht. Sie sind meist sogar aus der Zeit und nicht einfach nur nachgemacht. Daher bewegen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler auch anders, das unterstützt ihr Spiel sehr. Die Blindenwerkstatt ist ein ungewöhnlicher und sehr konkreter Drehort. Sie riecht nach Holz und Borsten, sie staubt und hat lauter eigentümliche Apparate, die man bewegen kann. Dieser Ort ist auch unabhängig von der zeitlichen Epoche ein sehr vielseitiger und dankbarer Ort zum Inszenieren. Andere Motive waren da eine viel größere Herausforderung: das verschneite Berlin nach Großstadt aussehen und die Gefahr von Auschwitz spüren zu lassen, ohne es konkret zu zeigen. Nur in zwei Archivschnipseln sieht man kurz die Baracken, wie sie wirklich waren, in der Inszenierung bleiben wir ganz im Erleben von Otto und wie er sich dem schrecklichen Ort annähert.

Herr Martens, was hat die Suche nach einem geeigneten Schauspieler für die Titelrolle bestimmt? Hatten Sie für die Rolle des Otto Weidt von Anfang an Edgar Selge im Auge?

Edgar Selge – aber auch Henriette Confurius – sind absolute Glücksgriffe für den Film. Unsere Vorstellungen und Wünsche haben sich mehr als erfüllt. Generell ist es uns fast gänzlich gelungen, unseren Wunschcast zusammen zu kriegen. Auch wenn wir die geplante Drehzeit noch einmal verschieben mussten und die Telefonleitungen zu den Schauspielern und ihren Agenturen heißliefen.

Produzent Matthias Martens mit seinen Hauptdarstellern
Produzent Matthias Martens mit seinen Hauptdarstellern | Bild: NDR / Beate Waetzel

Herr Christiansen, bei einem so ernsten und sensiblen Stoff, der ja auch der besonderen Einfühlung der Schauspieler nicht nur in ihre Rollen, sondern auch in die Zeit bedarf – wie muss man sich da die Arbeit am Set vorstellen?

Um jetzt nur zwei Beispiele zu geben, zentraler Punkt ist ja die Darstellung von blinden Menschen. Für Edgar Selge gab es einen Trainer oder vielleicht besser gesagt einen Paten, der etwa im Alter von Otto Weidt erblindet ist und dessen Art zu gehen und zu handeln die Darstellung von Edgar maßgeblich beeinflusst hat. Außerdem sind einige der Komparsen in der Werkstatt tatsächlich blind, was die Atmosphäre und das gemeinsame Drehen doch sehr geprägt hat. Für die Inszenierung müssen andere Absprachen getroffen werden, damit die Blinden innerhalb der Szene am richtigen Ort landen und auch in einer Wiederholung noch zu der vorherigen Einstellung passen. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler war es gut, weil es einen – auch wenn man selber vielleicht gar keinen Blinden spielt – zu hoher Aufmerksamkeit zwingt. Ich finde, das hat sich auf alle Szenen übertragen: wie selbstverständlich alle miteinander agieren und wie realistisch und plausibel das Zusammenspiel jetzt ist. Und das alles bei einer Geschichte, die doch sehr ungewöhnlich ist.

Herr Martens, welche Spur, welchen Eindruck soll der Film bei den Zuschauern hinterlassen?

Dass es wichtig ist, von positiven Helden zu erzählen. Um den Menschen Mut zu machen, zu ihren Idealen zu stehen. Dass es sich lohnt, für seine Ziele zu kämpfen und dass es wichtig ist, sich dem Unrecht entgegenzustellen.

Herr Christiansen, was kann uns die – filmische – Erinnerung an ein Lebensschicksal wie das von Otto Weidt heute sagen?

Für mich ist er ein Held – kein Supermann, aber ein aufrechter Kerl. Jemand, der mit seiner Mitmenschlichkeit und seinem Respekt doch weit über uns herausragt. Dabei ist seine Liebe zu Alice so verständlich und zeigt auch seine Schwäche. Dass er auf der anderen Seite eben auch ein Mensch ist, wie jeder andere auch. Er ist ein ungewöhnlich mutiger, aber auch ein verzweifelter Mann, der mit vielen Einschränkungen leben muss und sich sein Glück selber sucht, wo ihm doch so wenig davon mitgegeben wurde. Den Film habe ich ja nun so oft gesehen wie kein anderer, und doch berührt mich diese Geschichte immer wieder, weil in diesem sehr speziellen Schicksal auch etwas sehr Allgemeingültiges liegt.

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