Wie realistisch ist der Film "Die Stille danach?"

Gisela Mayer – Expertin für Amokläufe
Gisela Mayer wurde als Betroffene zu einer Expertin für Amokläufe. | Bild: dpa

DasErste.de: Frau Mayer, im Film "Die Stille danach", der am Themenabend läuft, sind unerwiderte Gefühle zu einem Mädchen ein Kipppunkt für einen Amoklauf. Wie realistisch ist das?

Gisela Mayer: Das ist absolut möglich. Unerfüllte Liebe ist vielleicht nicht der Dreh- und Angelpunkt, aber einer unter mehreren. Das passiert jeden Tag an jeder Ecke zehntausend Mal. Das gehört bei jungen Menschen einfach dazu. Potenzielle Täter können diese Art der Abweisung aber nicht abhaken. Sie empfinden Wut, speichern diese Emotion, irgendwann gibt es Gewaltgedanken. Potenzielle Täter geben Anderen die Schuld und rechtfertigen so ihre geplanten Taten. Sie empfindet ihre Pläne als Racheakt an einer Menschheit, die ungerecht ist, sie demütigt und quält.

Kreidespuren zeigen den Umriss des Amokläufers Tim K. vor einem Autohaus in Wendlingen am Neckar am 15.03.2009, wo er sich erschossen hatte.
Kreidespuren zeigen den Umriss des Amokläufers Tim K. vor einem Autohaus in Wendlingen am Neckar am 15.03.2009, wo er sich erschossen hatte. | Bild: dpa

Später im Spielfilm schreiben die Eltern des Amokläufers einen Entschuldigungsbrief an die Opferfamilien. In Ihrem Fall was das ähnlich. Ein tröstender Zug?

Ich halte sehr, sehr viel von einem solchen Brief, wenn er nur einfach aufrichtig geschrieben ist. Bedauerlicherweise war es im Fall Winnenden ein klar durch einen Anwalt beeinflusstes Schreiben. Da stand ja auch noch der Prozess gegen den Vater des Täters bevor. Das war nicht das, was ich mir gewünscht hätte.

Was hätten Sie sich gewünscht?

Eine aufrichtige, klare Entschuldigung der Eltern oder der Versuch der Kontaktaufnahme. Es ist auch den Hinterbliebenen der Opfer völlig klar, dass die Eltern des Täters niemals im Leben einen Amokläufer erziehen wollten. Und auch diese Eltern haben ihr Kind verloren. Es geht nicht um eine Art der Schuldzuweisung, sondern um ein Verstehen. Das ist in den ersten vier Wochen nicht möglich, vielleicht auch nicht im ersten Jahr. Aber ich hätte es sehr schön gefunden, die Eltern in einem privaten Gespräch zu treffen, einfach nur um sich gegenüber zu stehen und zu sagen, wir sprechen jetzt miteinander.

Vermutlich hatten die Eltern des Täters Angst vor Schuldzuweisungen und überwältigender Trauer.

Was passiert ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Es ist Schuld vorhanden – bei wem, darum geht es in diesem Gespräch nicht. Die Schicksale unserer Familien sind miteinander verknüpft. Für uns alle hat sich durch das Tun des Täters alles im Leben geändert. Das verbindet, wenn auch nicht freiwillig.

Können Sie dem Täter selbst vergeben?

Vergeben ist ein sehr hoch angesiedelter Begriff. Das steht vielleicht anderen Instanzen zu, darüber zu entscheiden. Aber ich denke, dass mit der Zeit das Verstehen einer Verstrickung aus Wut und Rache möglich ist. Ein Amokläufer wird nicht als Amokläufer geboren. Sicher ist: Er war verzweifelt in seinem Leben, sah nichts Lebenswertes mehr darin. Er wusste keine andere Lösung. Er war definitiv kein glücklicher Mensch. Niemand, der seinen Ort auf dieser Welt gefunden hat, könnte eine solche Tat begehen.

Welche Frage würden Sie dem Mörder Ihrer Tochter stellen, wenn er noch am Leben wäre?

Das kann ich schlecht in eine Frage fassen. Was ich gerne von ihm wissen würde, könnten wir vielleicht eher in einem Gespräch klären. Ich würde gerne heraushören, ob er jemals die Schönheit des Lebens, des Lebendigseins, gespürt hat. Ob er nur im Ansatz ermessen kann, was er zerstört hat. Meine Vermutung ist es bisher, dass er diese Freude am Leben nie kennenlernen durfte.

Die Fragen stellte Veronika Beer.