Es sind fast immer "Jungs" – Kann man Amokläufer erkennen?

Amokdroher sind fast immer Jungen oder junge Männer.
Amokdroher sind fast immer Jungen oder junge Männer. | Bild: dpa

Wer mit Amok droht und dafür verurteilt wird, der kommt in die Praxis von Gisela Mayer. Die Psychologin weiß, wie Menschen zu Amokläufern werden und wie sich eine solche Tat verhindern lässt. Leider weiß sie auch, dass ihr ihre engagierte Arbeit ihre Tochter nicht zurückbringen kann. Die junge Frau wurde 2009 in Winnenden erschossen.

Es sind "Jungs"

Was sind das für Menschen, denen Gisela Mayer in ihren Gesprächen für die Jugendgerichtshilfe gegenübersitzt? Allesamt junge Männer im Alter von 15 bis 19 Jahren, oder, wie die Psychologin sagt: "Jungs." Über Jahre hinweg war nur eine einzige Frau dabei.

Diese "Jungs" sind aber keineswegs harmlos. Vielmehr sind sie bereits wegen Drohungen, zumeist in Zusammenhang mit Waffenbesitz, verurteilt worden. Zur Strafe gehört dann auch, eine Stunde mit Gisela Mayer sprechen zu müssen. Wenn sie bei ihr ankommen, spürt die 58-Jährige das Unbehagen. Niemand kommt strahlend durch die Tür. "Das Reden mit mir ist eindeutig eine Strafe für sie", weiß Gisela Mayer. Denn die Psychologin hat ihre eigene Tochter beim Amoklauf in Winnenden verloren. Dann sitzen die Amokdroher jemandem gegenüber, dem das, was sie sich ausgemalt haben, wirklich passiert ist.

Zurückgesetzt und abgelehnt

In den Gesprächen fällt Gisela Mayer auf, dass sich die jungen Menschen in nahezu allen Fällen in ihren familiären Strukturen als zurückgesetzt empfinden. Dieses Gefühl der Ablehnung weite sich dann oft auf das Umfeld, etwa die Schule, aus. "Das hängt mit einer narzisstischen Persönlichkeit zusammen", sagt Mayer. Diese Menschen fühlten sich benachteiligt, nicht wertgeschätzt, gemobbt.

Zu diesem Ergebnis kommt auch das wissenschaftliche Amok-Forschungsprojekt "Target", das kürzlich abgeschlossen wurde und an dem Gisela Mayer mitgewirkt hat. Das Mobbing und die Zurücksetzung sind demnach nicht immer zu verifizieren, also nicht nachweisbar. Wichtig ist aber: Der potenzielle Täter nimmt es genau so wahr.

Die Familie spielt eine große Rolle

Kann es denn auch sein, dass ein Amokläufer aus einer warmherzigen, einander zugewandten Familie kommt und die empfundene Zurücksetzung erst später beginnt? "Wenn der familiäre Rückhalt intakt und gut ist, dann passiert eine solche Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht", ist Mayers Erfahrung.

Familien von Amok-Drohern hätten ein eher kühles, gleichgültiges Verhältnis. Jeder ginge seiner Wege, man nehme sich eher am Rande wahr. Wäre es anders, hätte man ja sicher bemerkt, dass sich ein Familienmitglied zurückzieht und verändert. Diese Familien gehören allen gesellschaftlichen Schichten an. Wer von schwierigen sozialen Verhältnissen ausgeht, liegt falsch.

Selbstverliebt und ichbezogen

Man dürfte aber nicht nur der Familie die Schuld zuschieben, betont Mayer: "Es ist schon immer der Täter selbst." Er empfinde die normalen Kränkungen des Alltags als besonders stark und verletzend. Und er sammele sie geradezu. Es sei ein Gesamtspiel: Eine ichbezogene, selbstverliebte Persönlichkeit aus kühlen familiären Strukturen trifft auf ein abweisendes, schlecht integrierendes schulisches Umfeld. Dann gebe es diese schreckliche Entwicklung.

Gisela Mayer – Expertin für Amokläufe
Gisela Mayer engagiert sich für die Prävention von Amokläufen. | Bild: dpa

Dabei gibt es immer Hinweise, die durchsickern. Experten nennen das "Leaking". Denn Amok geschieht entgegen dem ursprünglichen Begriff nicht urplötzlich, kommt nicht überraschend. Amok hat grundsätzlich eine sehr lange Vorbereitungszeit. Man könne mindestens von einem Jahr intensiver Vorbereitungszeit ausgehen, in der der junge Mensch bereits Vorbereitungen trifft, sagt die Psychologin.

Jeder Amoklauf wird intensiv vorbereitet

Diese Phase sei die Chance für alle Anderen einzugreifen. Denn dann gebe es Spuren und Worte: "Die potenziellen Täter ziehen sich auffallend in sich zurück. Sie beschäftigen sich mit ihren Gewaltphantasien, recherchieren im Internet. Es kann auch der Kleidungsstil sein. Oder Nebenbemerkungen, die Sympathien zu Amokläufern signalisieren, so etwas wie: Irgendwie kann ich den verstehen."

Amok ist eine Nachahmungstat

Warum gibt es dann noch Amokläufe wie etwa den in München im Juli 2016? Sehen und hören alle zu wenig hin? "Leider ist das Wissen, das die Wissenschaftler inzwischen haben, noch nicht dort angekommen, wo es hin muss", bedauert Mayer. Sie meint die Schulen, die Klassenzimmer, die Lehrer, Menschen, die mit den Jungen zu tun haben, Vereinstrainer etwa. Wichtig ist es ihr auch, Anderen zu vermitteln: Amok ist eine Nachahmungstat. Amoktäter schaffen sich ein Vorbild. Und ob wir es wollen oder nicht: Die Blaupause aller Amoktaten ist die Tat an der Columbine High School 1999 in den USA. Das ist heute noch so, auch wenn sich der Täter von München neben Columbine an Winnenden orientiert hat.

Die eigene Tochter wurde erschossen

Beim Amoklauf von Winnenden verlor Gisela Mayer am 11. März 2009 ihre Tochter. Der Täter schoss ihr aus fünf Metern Entfernung in die Brust; feuerte weiter, als die Referendarin schon am Boden lag. Insgesamt fünf Mal. Sie wurde am Tag ihres 25. Geburtstags beerdigt. Hätte das Leben der jungen Frau gerettet, Winnenden verhindert werden können?

Mahnmal zum Amoklauf in Winnenden
Mahnmal zum Amoklauf in Winnenden | Bild: dpa

Gisela Mayer ist sich ganz sicher: "Auch hier hat der Täter Hinweise gegeben. Er hat zunächst von sich aus um eine therapeutische Behandlung gebeten. Welcher 17-jährige Junge tut das?" Seine Eltern seien mit ihm einige Kilometer weit gefahren. Der spätere Täter habe seiner Therapeutin in der ersten Sitzung von Gewaltphantasien erzählt, die ihn quälten. Es sei ihm klar gewesen, dass sich da etwas in ihm abspiele. Das habe er auch so zum Ausdruck gebracht. Er wurde nicht ernst genommen.

Weitere Amokläufe konnten verhindert werden

Heute ist die Gesellschaft zum Glück sensibilisierter für das Thema Amoklauf. "Das ist gut so und Sinn und Zweck meines Tuns", erklärt Mayer: "Meiner eigenen Tochter kann ich nicht mehr helfen. Aber ich kann das, was ich weiß, zum Nutzen Anderer weitergeben und anderen Familien unendliches Leid ersparen." Nach Winnenden wurden weitere Amokläufe eines vergleichbaren Ausmaßes verhindert. Manchmal auch nur durch banale Zufälle: Eine erwiderte Liebe, Stolz oder ein bisschen Bestätigung retteten im Verborgenen das Leben vieler junger Menschen.

Von Veronika Beer