Leon Seidel im Gespräch
"Wie verhält sich jemand, dem so etwas widerfahren ist"

Sie spielen Frank, einen Schüler, der immer wieder missbraucht wird und der sich an niemanden wenden kann, weil nicht einmal sein Vater ihm glaubt. Wie bereitet man sich auf so eine Rolle vor?
Ich hatte bis dahin überhaupt nicht mitbekommen, was an der Odenwaldschule passiert ist. Deswegen musste ich mich erst mal informieren und mir dann Gedanken über die Rolle machen. Wie verhält sich jemand, dem so etwas widerfahren ist? Das ist mir am Anfang ein bisschen schwer gefallen, aber dann hat der Regisseur mit mir und noch zwei anderen Jungschauspielern ein Coaching gemacht.
Welche Ratschläge hat Ihnen Christoph Röhl gegeben?
Wir sollten uns zum Beispiel vorstellen, wie wir in eine blaue Sonne schauen, und auf diese Weise eine Trostlosigkeit, eine Traurigkeit herstellen.
Gab es Szenen, in denen die blaue Sonne zum Einsatz gekommen ist?
Ja, zum Beispiel die Szene, in der Simon Pistorius – also Ulrich Tukur – in unser Zimmer kommt und das "Morgenritual" durchführt. Mir war ein bisschen bange davor, weil mir nicht ganz klar war, wie ich mich in Franks Situation hineinversetzen kann. Und da hat die blaue Sonne tatsächlich sehr geholfen.
Die Zusammenarbeit mit Christoph Röhl scheint gut geklappt zu haben ...

Auf jeden Fall, auch deswegen, weil ich mich mit ihm sehr gut verstanden habe. Wichtig war, dass er diesen Dokumentarfilm über den Missbrauch an der Odenwaldschule gedreht und mit Betroffenen gesprochen hatte. Wenn jemand erklären kann, wie die sich gefühlt haben und noch immer fühlen, dann er. Er hat uns auch immer wieder vor Augen geführt, dass sie gar nicht sagen konnten, was ihnen angetan wird – weil sie sich so sehr schämten.
Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, dass die Betroffenen diesen Film sehen und sich mit Ihnen vergleichen werden?
Beim Spielen nicht. Richtig bewusst geworden ist mir das erst, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe.
Was sagen Sie denn zu dem Film, jetzt, Monate nach dem Dreh?
Er hat mich wirklich sehr berührt, gerade am Ende, in der Szene mit dem alten, todkranken Pistorius. Da zoomt die Kamera auf die Fotos von uns Kindern, und ich finde, das berührt ziemlich. Es packt einen ja schon eine gewisse Aggressivität, wenn man bedenkt, dass Gerold Becker nie zur Rechenschaft gezogen worden ist.
Wenn man sich immer wieder in ein Opfer von Becker/Pistorius hineinversetzt, nimmt man diesen Schrecken dann auch mit ins Privatleben?
Das habe ich am Anfang gedacht, als ich das Drehbuch gelesen habe, und auch noch an den ersten Drehtagen. Aber das verflog dann recht schnell. Letztlich war es überhaupt kein Thema für mich, die Rolle und das wirkliche Leben voneinander zu trennen.
Die Zeiten haben sich seit den Tagen Beckers an der Odenwaldschule geändert, und damit auch die Jugendlichen. Glauben Sie, dass so ein systematischer Missbrauch heute noch möglich ist?

Geändert hat sich sicherlich, dass man aus den Medien mittlerweile Organisationen kennt, die sich mit der Thematik beschäftigen und an die man sich wenden kann. Aber ansonsten ... Viele Jugendliche erwecken ja den Anschein, als hätten sie eine harte Schale. Aber würden sie, wenn man sie missbraucht hätte, tatsächlich sagen, was ihnen passiert ist? Ich denke, man schämt sich einfach zu sehr dafür, es ist einem zu peinlich. Was würden die anderen von mir denken? Was würden die darüber sagen, wie würde ich damit angenommen? Die Zeit, in der man lebt, macht da keinen Unterschied.
Sie sprachen schon über die gute Zusammenarbeit mit Christoph Röhl. Wie war es denn mit dem Rest des Teams?
Das war sehr cool. Ulrich Tukur war super nett und sehr witzig, wir haben ziemlich viel gelacht. Und Julia war wie eine Mutter, total lieb, total freundlich. Mit den anderen Jungschauspielern habe ich mich auch sehr gut verstanden. Wir sind abends immer Döner essen gegangen. Wir waren ja mit dem ganzen Team in einem Hotel, da saßen wir oft bis Mitternacht zusammen und haben geredet.
Gab es gar nichts Negatives?
Doch. Ich hatte in der Rolle ja die meiste Zeit ganz lange Haare, und dafür musste ich eine Perücke tragen. Also habe ich morgens immer eine Dreiviertelstunde in der Maske gesessen und mir mit Kleber diese Perücke dranmachen lassen. An heißen Tagen juckte das wie verrückt. Gegen Ende hat mir Julia – also Petra – zum Glück ja dann die Haare geschnitten, da war ich froh. Die kurzen Haare sind meine.
Kann man fernab der Perückenstrapaze sagen, dass Frank Ihre bislang schwierigste Rolle war?
Ja. Im Vergleich zu den Kinderrollen, die ich vorher gespielt habe, war das schon etwas ganz anderes. Schwieriger auf jeden Fall, dafür hat es umso mehr Spaß gemacht. Mir war es auch wichtig, mal etwas Ernstes zu spielen. Wenn man dann auch noch am Set hört "Hey, die Muster sehen total super aus", dann ist man gleich noch mal viel motivierter, sofort weiterzudrehen.
Also lieber ernste als fröhliche Filme drehen?
Ja, es gibt einem ein ganz anderes Gefühl. Und es macht Freude, sich so intensiv mit einer Rolle auseinanderzusetzen. Mein nächstes Filmprojekt "Land of Mine" hat auch wieder ein ernstes Thema. Der Film spielt in der Nachkriegszeit. Es geht um jugendliche Kriegsgefangene, die gezwungen werden, Minen wegzuräumen.