Ulrich Tukur über seine Rolle

"Der menschliche Abgrund ist immer verstörend und auf vertrackte Weise attraktiv".

Ich bin kürzlich auf das folgende Zitat von Ihnen gestoßen: "Du musst als Schauspieler die Figur schon mögen" – wie ist das möglich bei einem Charakter wie Simon Pistorius?

Mit "mögen" meine ich, dass man einen zu spielenden Charakter in seinem So-Sein erst einmal akzeptiert und nicht ablehnt. Sonst braucht man ihn nicht zu spielen, und es wird auch nicht gut gehen. Bei der Erforschung mancher Figuren kann sich mitunter überraschend Sympathie einstellen, andere bleiben einem suspekt, aber doch reizvoll in ihren Darstellungsmöglichkeiten.

Ulrich Tukur über seine Rolle in "Die Auserwählten"

Gab es anfangs den Impuls "Den will ich nicht spielen"?

Im Gegensatz etwa zu Erwin Rommel, Kurt Gerstein oder Herbert Wehner, zu denen ich sehr schnell einen Zugang fand, war mir Gerold Becker (oder Simon Pistorius, wie er bei uns heißt), der Leiter der Odenwaldschule, die pädagogische Lichtgestalt der siebziger Jahre, der Hochstapler und praktizierende Pädophile eine entsetzliche und widerwärtige Figur. Ich habe mir in der Tat überlegt, ob ich sie spielen soll. Wenn Sie aber in die Tiefe eines Menschen hinabsteigen, in seine Vergangenheit und die dunklen Schichten seiner Seele (und jeder von uns hat sie), dann finden Sie immer ein Ereignis, etwas, das nachvollziehbar macht, warum dieser Mensch moralisch so furchtbar ausgeglitten ist. Das dann herauszuarbeiten, diese Nachtseite zu erhellen, ist der Reiz und die Aufgabe einer seriösen Darstellung. Sie macht das Monster zum Menschen, ohne aber seine Taten zu rechtfertigen. Er ist, ob wir es wollen oder nicht, immer auch ein Teil von uns.

Wie bereitet man sich auf eine solche Rolle vor?

Man liest, man informiert sich, spricht mit Menschen, die persönliche Erfahrungen hatten, geht mit der Figur spazieren und lernt den Text.

Inwieweit hat es Ihre Arbeit handwerklich beeinflusst, dass Simon Pistorius das filmische Abbild eines Menschen ist, der tatsächlich gelebt hat?

In diesem Falle nicht so sehr. Gerold Becker ist den meisten Menschen kein Begriff. Er spielt keine Rolle im kollektiven Bewusstsein der Fernsehzuschauer, die wenigsten wissen, wie er aussah und sprach. Ein Problem ist immer die Darstellung einer bekannten, populären Persönlichkeit. Da weiß alle Welt ganz genau, wie man sie zu spielen hat. Da aber viele der von Gerold Becker traumatisierten Menschen noch unter uns leben und diesen Film möglicherweise sehen, bin ich mit hohem Respekt und großer Vorsicht an diese Rolle herangegangen.

Ulrich Tukur spielt den Leiter der Odenwaldschule, Simon Pistorius
Ulrich Tukur spielt den Leiter der Odenwaldschule, im Film: Simon Pistorius. | Bild: WDR / Katrin Denkewitz

Machte die Ambiguität der Figur – charmant, charismatisch und scheinbar fürsorglich auf der einen, gewissenlos, egozentrisch, triebhaft und brutal auf der anderen Seite – für Sie den Reiz dieser Figur aus?

Selbstverständlich ist das der eigentliche Reiz der Figur. Hier offenbart sich der menschliche Abgrund, und der ist immer verstörend und auf vertrackte Weise attraktiv. Richard der Dritte ist die Figur, die man spielen will, und nicht Orlando.

Kann die Figur Pistorius als zeitloses Beispiel dafür dienen, wie Macht über Menschen ausgeübt werden kann?

Die Auserwählten: Simon Pistorius (Ulrich Tukur), charismatischer und berühmter Leiter der Odenwaldschule
Ulrich Tukur als Pistorius: auf der einen Seite charismatisch und berühmt, auf der anderen brutal und widerwärtig. | Bild: WDR / Katrin Denkewitz

Natürlich, denn das Prinzip ist immer ähnlich. Dem schwachen, orientierungssuchenden Menschen tritt eine charismatische Persönlichkeit entgegen, die über jeden Zweifel erhaben scheint, Sicherheit und Kraft ausstrahlt und ihm den richtigen Weg weist. Diese Hochstapler sind von ihrer eigenen Mission zutiefst überzeugt, und das macht sie so unwiderstehlich und erfolgreich. Sie treten uns in allen Bereichen der Gesellschaft entgegen, als Politiker haben sie schon Weltkriege angezettelt und Millionen von Menschen ins Elend gestoßen. Im Netz, das sie über ihre Anhänger auswerfen, verfangen und verheddern sich Vernunft und Eigenverantwortlichkeit, und ist man ihnen erst ein Stück weit gefolgt, rutscht man in eine seelische Abhängigkeit, aus der kaum ein Entrinnen ist.

Zur Szene des ersten Übergriffs auf den kleinen Volker: War es für Sie und den sehr jungen Nico Kleemann schwierig, diese Situation zu spielen?

Ich habe mich vor dieser Szene gefürchtet und mit Nico darüber geredet. Mich hat erstaunt, wie entspannt er die Sache nahm. War mir in seinem Alter Sexualität noch ein Buch mit sieben Siegeln, etwas Unfassbares und Geheimnisvolles, werden Jugendliche heute ja überall damit konfrontiert. Es war also relativ einfach, dem unerträglichen Moment die Spitze zu nehmen und davor zu lachen und danach Quatsch zu machen.

In so einer Rolle geht man ja über eigene Grenzen – wie entscheidend ist dabei das Verhältnis zum Regisseur, und wie war generell die Zusammenarbeit mit Christoph Röhl?

Ohne Christoph wäre der Film gar nicht entstanden. Er hat Jahre vorgearbeitet, hat einen Dokumentarfilm über die Odenwaldschule gedreht und war ohne Zweifel der Richtige, diesen schwierigen Stoff zu inszenieren. Bei Filmen, die an die seelische Substanz gehen können und einen bedrängenden, realen Hintergrund haben, braucht man ein großes Vertrauen in denjenigen, der die Sache umsetzt und in eine künstlerische Form bringt. Das war bei Christoph absolut der Fall; die Arbeit war intensiv, ruhig und sehr verantwortungsvoll.

Sie haben an Originalschauplätzen gedreht – wie hat sich das auf Sie und die Atmosphäre am Set ausgewirkt?

Die Diskrepanz zwischen der Schönheit des Ortes, der herrlichen Natur, den hübschen Gebäuden und der verstörenden Geschichte, die sich dort abgespielt hat, war faszinierend. Das hat keinen von uns unberührt gelassen.