Die Odenwaldschule – das (ehemalige) Vorzeigeinternat

Die Gründungsjahre
"Werde, der du bist!" Mit diesem Leitsatz des griechischen Dichters Pindar startete 1910 die Heimschule für Mädchen und Jungen im idyllisch gelegenen Oberhambach (Bergstraße). Gegründet wurde die Einrichtung durch das Ehepaar Paul und Edith Geheeb, beide Reformpädagogen. Der vermögende Vater von Edith Geheeb, Max Cassirer – ein deutsch-jüdischer Politiker und Unternehmer – ermöglichte den Bau der Schule.
Die Odenwaldschule war eine der ersten koedukativen Internatsschulen, also eine Schule an der Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden. Schüler und Erwachsene sollten in dem "Landerziehungsheim" leben können, wie in einer Familie, so der Wunsch von Paul Geheeb. Er veränderte radikal den traditionellen Schulunterricht hin zu einer liberalen Pädagogik. Es gab keine Klassen mehr, Schüler, unabhängig vom Jahrgang, fanden sich in Kursen zusammen. Die individuelle Förderung der Kinder stand im Fokus, die Gemeinschaft bekam einen hohen Stellenwert. Auch konnten sich die Schüler neben dem klassischen Unterricht mit Musik, Theater oder handwerklichen Arbeiten beschäftigen.
Das Aus der Schule in den Kriegsjahren
Bereits zehn Jahre später hatte sich die Odenwaldschule über Deutschland hinaus als reformpädagogisches Vorzeigeinternat etabliert. 1934 emigrierte das Ehepaar Geheeb mit einigen Schülern aus der Odenwaldschule in die Schweiz und gründete dort die Ecole d’Humanité.
Die Reformschule konnte während des Zweiten Weltkrieges ihren Unterricht nicht fortsetzen, denn das Schulkonzept passte nicht in das Ideal der Nationalsozialisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Unterricht wieder aufgenommen und in den folgenden Jahren unter wechselnden Schulleitern zur integrierten, differenzierten Gesamtschule aufgebaut – mit Haupt- und Realschule, Gymnasium sowie Werkstudienschule.
Die private Ersatzschule, der liberale Eltern gerne ihren Nachwuchs anvertrauten, wurde 1963 UNESCO-Modellschule.
Die ersten Missbrauchsfälle werden bekannt

Viel unerwünschte Aufmerksamkeit erhielt die Odenwald-Schule Ende der 90er Jahre. Damals kamen erste Fälle von Missbrauch ans Tageslicht. Als einer der Haupttäter wurde der Schulleiter Gerold Becker beschuldigt, der sich an 86 benannten Schülern vergangen hatte. Der charismatische Theologe und Reformpädagoge war von 1972 bis 1985 Leiter der Odenwaldschule. Er hatte sich während seines Berufslebens als schulischer Berater und Autor über die Odenwaldschule hinaus einen Namen gemacht.
Der Skandal um die Odenwaldschule kann jedoch nicht auf die Person Gerold Becker reduziert werden. Historische Dokumente lassen vermuten, dass bereits von Beginn an Schüler von Lehrern an diesem Ort missbraucht wurden. Mindestens 132 Opfer gibt es sein den 1960er Jahren an der Odenwaldschule, man geht von 19 Tätern aus.
Die Suche nach der Wahrheit
Noch immer geht es im Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule um die Suche nach der Wahrheit. Doch etliche der mutmaßlichen Täter können nicht mehr reden. So auch Gerold Becker, der am 7. Juli 2010 verstarb und kurz davor noch seine Taten eingestand. Keiner der Täter wurde je für seine Verbrechen verurteilt. Missbrauch verjährt, das Leid der Betroffenen nicht.
Seitens der Odenwaldschule versuchten und versuchen wechselnde Schulleiter die dunkle Geschichte aufzuarbeiten. Jedoch gibt es Kritik, vor allem von den Betroffenen selbst, dass sich die Schule nicht ausreichend für die Aufklärung der Fälle einsetze. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass erst der Mut und die Hartnäckigkeit der Betroffenen dafür gesorgt haben, dass die Fälle an die Öffentlichkeit gelangten und eine Aufarbeitung überhaupt möglich ist.
Wie geht es mit einer Schule, die eine solche Geschichte verzeichnet und mit sinkenden Schülerzahlen zu kämpfen hat, weiter? Auf der Website der Odenwaldschule für das Schuljahr 2014/15 ist zu lesen: "Bis heute sind das Familiensystem, die Schulgemeinde und die Möglichkeiten zur Doppelqualifikation, das heißt Abitur und berufliche Ausbildung, sinnvolle und erfolgreiche Besonderheiten, die die Odenwaldschule auszeichnen, ihren Charakter prägen und sie weit über die Grenzen Hessens hinaus bekannt gemacht haben."
Die Odenwaldschule steht mit den Missbrauchsfällen nicht alleine. Auch das Canisius-Kolleg, das Kloster Ettal und viele kirchliche Einrichtungen standen in den vergangenen Jahren wegen sexuellem Missbrauch von Kindern in den Schlagzeilen.
Der TV-Film "Die Auserwählten" konnte exemplarisch an einem Originalschauplatz entstehen, die Odenwaldschule unterstützte die Produktion.
Autorin: Andrea Rickert