SENDETERMIN So., 07.12.08 | 17:03 Uhr | Das Erste

Gefährliche Blaulichtfahrten

Wenn der Schutzmann ums Eck kommt… dann kann es gefährlich werden: Allein in Hamburg gab es im vergangenen Jahr 107 Unfälle bei Polizeieinsätzen mit Blaulicht. In drei von vier Fällen waren die Beamten schuld.

Feuerwehr, Krankenwagen, Polizei – alle Helfer, die mit Blaulicht und so genannten Sonderrechten unterwegs sind, gefährden sich und andere - oft in hohem Maße. Manchmal sogar mit tödlichem Ausgang.

Dies ist ein bundesweites Problem, schildert Professor Dieter Müller von der Hochschule der Sächsischen Polizei: "Es gibt eine Untersuchung aus dem Jahr 1994 der Bundesanstalt für Straßenwesen. Sie hat errechnet, dass bei Einsatzfahrten des Rettungsdienstes für einen Unfall mit Schwerverletzten ein achtfach erhöhtes Risiko besteht und ein vierfach erhöhtes Risiko gegenüber Normalfahrten, einen Unfall mit einem tödlichen Ausgang zu erleiden."

Bittere Bilanz

Besonders Feuerwehrleute und Polizisten sind oft in Unfälle verwickelt. Allein in Hamburg gab es im vergangenen Jahr 107 Unfälle bei Polizeieinsätzen mit Blaulicht. In drei von vier Fällen haben die Beamten den Unfall verursacht. Vielen anderen Bundesländern ist das Thema offenbar so unangenehm, dass sie keine Zahlen dazu veröffentlichen.

Gummi geben

Bei der Polizei ist der Ausbildungsstandard von allen Organisationen noch am höchsten. Beamte bekommen in der Regel ein Fahrsicherheitstraining auf dem Verkehrsübungsplatz. Slalomfahrt um Hütchen bei hoher Geschwindigkeit, Bremsen auf nassem Untergrund, plötzliches Ausweichen und extreme Kurvenlagen gehören dazu. Das verbessert zwar die Beherrschung des Dienstwagens. Doch auf das, was die Polizisten bei echten Einsatzfahrten erwartet, bereitet sie dieses Training kaum vor.

Polizeischüler Pascal Ledermüller hat als junger Polizeipraktikant eine Verfolgungsfahrt erlebt, die mit einem schweren Unfall endete: "Man blendet schon einige Dinge aus. Man sieht halt vor einem den Wagen und will den erwischen. Man weiß trotzdem, dass noch andere Verkehrsteilnehmer da sind. Es ist schon ein Problem, wenn der vor einem fährt wie ein Irrer, und man sollte dran bleiben einerseits. Andererseits muss man abwägen, dass man keinen gefährdet. Das ist halt eine schwierige Gratwanderung, sag ich mal."

Der schmale Grat und das Gaspedal

Alexandra Neukum von der Universität Würzburg hat diese Gratwanderung an jungen und an erfahrenen Fahrern untersucht. Dazu hat sie Polizeibeamte genau festgelegte Teststrecken fahren lassen. Elektroden am Körper zeichneten die Herzfrequenz auf, Kameras im Cockpit registrierten jede Kopfbewegung. Ein spezielles Computerprogramm dokumentierte die Blickachsen und hielt somit fest, was der Einsatzfahrer sah. „Was man sehen kann ist, dass die erfahrenen Fahrer im Team zusammenarbeiten. Der Fahrer schaut nach links, der Beifahrer nach rechts. Man spricht sich ab“, erläutert Alexandra Neukum.

Die erfahrenen Fahrer sind besser aufeinander eingestimmt, weiß die Wissenschaftlerin: "Man gibt Kommandos, man sagt 'fahr' oder 'sei vorsichtig, da kommt was'. Bei den jungen Fahrern waren die Köpfe bei beiden stur nach vorne gerichtet und beide beschimpften den Verkehr. 'Geh weg da, ich komme'. Also wirklich eine Egoperspektive und nicht gerichtet auf das, was da vorne an Fehlern und Gefahren passieren könnte. Das Ergebnis der Pilotstudie war, dass die jungen Fahrer sich selbstverschuldet in extrem stressige und sicherheitskritische Situationen bringen. Und sehr viel höhere Sicherheitsrisiken auf sich nehmen als erfahrene Fahrer. Im Ergebnis kommen sie aber beide fast in derselben Zeit ans Ziel."

Das Gehirn am Limit

Selbst für erfahrene Fahrer ist der Blaulicht-Einsatz eine Extremsituation. Denn das Gehirn ist nur begrenzt aufnahmefähig. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es im ausgeruhten Zustand drei bis fünf komplexe Informationen pro Sekunde verarbeiten kann. Steht der Fahrer unter Stress, sinkt die Leistungsfähigkeit dramatisch.

Im Extremfall verengt sich das Sichtfeld zum sogenannten Tunnelblick. Vom Funkverkehr bekommt der Fahrer nur noch zwei bis drei Worte pro Satz mit. Hohe Geschwindigkeit, Fehler der anderen Autofahrer, und zuweilen auch polizeilicher Jagdinstinkt machen Blaulichtfahrten zum Risiko für alle Verkehrsteilnehmer. Je mehr das sichere Verhalten in kritischen Verkehrssituationen geübt wurde und je besser der Fahrer das Fahrzeug beherrscht, desto sicherer kann er auch unter Stress handeln, so dass niemanden gefährdet ist.

Fahrsimulator – mehr als eine Playstation

Die bayerische Landespolizei trainiert ihre Beamten deshalb in einem Fahrsimulator. Das Gerät erinnert entfernt an ein ovales Ufo, das auf hydraulischen Spinnenbeinen steht. Auf der beweglichen Plattform steht ein echter Polizeiwagen. Gebogene Wände bilden ein Rundkino, das perfekt auf den Akteur hinter dem Steuer abgestimmt ist. Rück- und Außenspiegel sind durch kleine LCD-Bildschirme ersetzt, auf die der Computer die passenden Bilder aus der virtuellen Einsatzfahrt projiziert. Die Hydraulikbeine schwenken die komplette Konstruktion bei rasanten Fahrmanövern mit, so dass ein realistisches Fahrgefühl entsteht.

Spezielles Ausbildungsprogramm

Der Simulator hat die bayerische Polizei rund zwei Millionen Euro gekostet. Das Teuerste daran war nicht die Metallkonstruktion, sondern die spezielle Software und die wissenschaftliche Begleitung sowie Weiterentwicklung durch die Universität Würzburg. Auch das Ausbildungsprogramm musste erst speziell entwickelt werden.

Um den Simulator werden die Bayern von anderen Bundesländern beneidet. Blech- und Personenschäden sind rein virtuell. Außerdem lassen sich gezielt kritische Situationen üben, die bei einem Training im Straßenverkehr so nicht planbar wären.

Gefährliche Fahrmanöver üben

Eine typische Übungssituation: Polizeischülerin Katharina Jornitz verfolgt einen Bankräuber. Sein Fluchtfahrzeug: Ein weißer BMW. Der wird allerdings nicht vom Computer gesteuert, sondern von einem Polizei-Kollegen. Er sitzt im Kontrollraum an einer Art Playstation, kurvt ebenfalls durch den virtuellen Straßenverkehr und kümmert sich wenig um Verkehrsregeln oder Tempolimit.

Glück für Katharina, dass alles nur eine Simulation ist. Einige ihrer Fahrmanöver wären auf der Straße vermutlich tödlich ausgegangen: „Es ist schwierig, die ganze Umwelt und alles noch mit wahr zu nehmen. Man muss sich ziemlich konzentrieren, fällt mir jetzt auf. Man muss wirklich alles genau beobachten. Weil man ja auch nicht weiß, was er macht.“

Eigenheiten einer Simulation

Im Nachbarraum sitzt der Trainer und verfolgt jedes Manöver. Neben ihm: Katharinas "Beifahrer" – ebenfalls ein junger Polizeischüler. Er ist per Funk mit Katharina verbunden. Zwar ist der Beifahrersitz im Simulator noch frei, doch die Illusion des Rundkinos funktioniert nur für die Person auf dem Fahrersitz. Einen Meter weiter rechts stimmt die Perspektive der Computerbilder nicht mehr. Die Projektion ist eben nur zweidimensional.

In der Vergangenheit ist einigen Beifahrern im Simulator schlecht geworden. Seitdem sitzen sie nicht mehr neben dem Fahrer, sondern im Kontrollraum. Über Funk geben sich Fahrer und Beifahrer gegenseitig Informationen. Das ist wichtig, denn beide müssen als Team agieren.
Während Katharina den weißen BMW im Auge behält und die linke Seite abdeckt, beobachtet ihr Beifahrer auf den Monitoren im Kontrollraum die rechte Seite und übernimmt zusätzlich den Funkverkehr mit der Zentrale.

Seit rund fünf Jahren ist der Simulator im Einsatz. Das Projekt wurde von der Universität Würzburg wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Alexandra Neukum kennt erste Ergebnisse: "Wenn man vergleicht, wie sich erfahrene und junge Fahrer im Simulator verhalten, dann sieht man am Anfang des Trainings sehr, sehr große Unterschiede. Die Erfahrenen, Professionellen machen wenig Fehler. Aber am Ende des Trainings haben wir die Jungen im Leistungsniveau deutlich angehoben und finden nur noch sehr wenig Unterschiede im Vergleich zu den erfahrenen Fahrern."

Die Straße als Lehrer

Die Forschung geht sogar noch einen Schritt weiter. In dem EU-Projekt "Train all" entwickelt die Universität Würzburg den Simulator zu einem intelligenten Lehrer. Der soll in Zukunft selbstständig erkennen, wie gut die Fahrschüler sind und sie dementsprechend fördern.

Dabei bietet die virtuelle Fahrwelt Möglichkeiten, die in der Realität undenkbar wären, erklärt Alexandra Neukun: "Wir können dem Fahrer zum Beispiel einen roten Balken einblenden, der den Abstand zum Vordermann zeigt, wenn er zu dicht auffährt. Oder wir können ihm viele Gefahrenpunkte sichtbar machen. Wo soll er hingucken? Wo in der Kreuzung ist denn was Gefährliches? Wenn so ein Einsatzfahrer ankommt, dann scannt der nicht die Kreuzung, sondern fährt im schlechtesten Fall einfach quer drüber. Wir können im Simulator dafür sorgen, dass er Lichtpunkte bekommt. Dass Objekte hervorgehoben werden, die gefährlich sind. Gefahrenpunkte können dann anfangen, zu blinken. Das sind Vorteile die wir im realen Fahrzeug nicht haben."

Nur noch virtuelle Unfälle

Angesichts dieser Möglichkeiten und der guten Erfahrungen aus Bayern, fordern Verkehrsrechtler sogar ein verpflichtendes Simulatortraining für alle Bundesländer wie Prof. Dieter Müller von Hochschule der Sächsischen Polizei weiss: "Es gibt eine Runde von Einsatzfahrtrainern, die sich regelmäßig einmal im Jahr trifft und dort Standards festlegt. Die müssen endlich von allen Bundesländern übernommen werden. Denn wenn dieses Training ausbleibt, nicht vorhanden ist oder zu spät kommt, steigen diese Unfallrisiken. Es ist normal dass dann ein Unfall geschieht."

Es reicht also nicht, sportlich um ein paar Hütchen herum zu fahren. Effektives Fahrtraining ist viel komplexer. Auch wenn ein Simulator fast zwei Millionen Euro kostet – wenn er hilft, auch nur einen tödlichen Unfall zu vermeiden, sollte er das Geld wert sein.

Autor: Björn Platz

Literatur

Einsatz und Verfolgungsfahrten

Erkenntnisse und Impulse einer Veranstaltungsreihe der Fachinspektion Fortbildung in der Polizeidirektion für Ausbildung der Bereitschaftspolizei in Schleswig-Holstein (Broschiert)

Autoren:
Stephan Schwentuchowski und Martin Herrnkind
Verlag: Verlag für Polizeiwissenschaften, Frankfurt/Main 2008.
ISBN 978-3-86676-024-0

Stand: 18.01.2013 15:32 Uhr

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