Ein Gespräch mit Judith Engel und Adrian Grünewald

„Was wir nicht schön finden und womit wir nicht umgehen können, wollen wir nicht sehen“

Woher weiß Evelyns (Judith Engel) Sohn Henrik (Adrian Grünewald) von dem Treffen mit der verlorengeglaubten Jessica?
Woher weiß Evelyns Sohn Henrik von dem Treffen mit der verlorengeglaubten Jessica? | Bild: NDR / Christine Schroeder

„Was wir nicht schön finden und womit wir nicht umgehen können, wollen wir nicht sehen“ – Ein Gespräch mit Judith Engel (Evelyn Sonntag) und Adrian Grünewald (Henrik Sonntag)

Jessica Sonntag ist seit vielen Jahren verschwunden. Die Mutter hat die Hoffnung, ihre Tochter wiederzusehen, nie aufgegeben. Was geht in ihr vor, als es plötzlich ein Lebenszeichen gibt?

JUDITH ENGEL: Ich konnte mich gut in diese Figur einfühlen. Ich habe selbst Kinder und kann mir vorstellen, wie schlimm es wäre, wenn ich keinen Kontakt hätte oder Ungewissheit erleben müsste, wie es ihnen geht. Ich glaube, Evelyn Sonntag hat anfangs vor allem die Sorge, dass Jessica sich wieder entzieht. Sie fürchtet nicht, es könnte wieder nur Einbildung sein, wie die anderen Male, als es angeblich Anzeichen dafür gab, dass Jessica noch lebt. Sie denkt vielmehr: Jetzt bloß keinen Fehler machen, sonst ist sie wieder weg. Ganz konkret und einfach. Man könnte auch vermuten, dass sie Angst hat, es könnte etwas aus der Vergangenheit aufploppen, denn ein anderes wesentliches Thema dieser Figur ist ja Verdrängung, das Leben mit Schuld und wie man damit umgeht, aber für mich hat beim Spielen zunächst die Sorge überwogen, sie könnte etwas falsch machen.

Henrik Sonntag verlor nach dem Verschwinden der Schwester im Grunde auch noch die Eltern, denn er wuchs bei einer Tante auf. Was hat Sie an diesem Henrik interessiert, Herr Grünewald?

ADRIAN GRÜNEWALD: Es hat mir viel Freude bereitet, Henrik zu verkörpern, weil er reifer ist als meine vorherigen Figuren. Ich hab sonst immer Teenager gespielt, diese war gefühlt die erste richtige Erwachsenenrolle. Henrik steht schon sehr auf eigenen Füßen. Weil er als Kind weggeben wurde, pflegt er einen eher losen Kontakt zu Mutter und Vater. Ich fand es spannend, ihn zu spielen, weil er in eine absolute Extremsituation gerät und mich die Handlung an griechische Tragödien erinnert. Sich da reinzuversetzen, wie weit es kommen muss und unter welchen Umständen jemand so handelt wie dieser Henrik, hat mich total gereizt.

Warum haben die Eltern den Sohn weggeben?

JE: Die Sonntags haben sich nach Jessicas Verschwinden getrennt. Einerseits war Evelyn Sonntag nach dem Verschwinden der Tochter labil und mit der Situation überfordert, anderseits wollte sie den Jungen sicher auch weggeben, weil er mit dem verbunden war, was in der Vergangenheit passiert ist, mit dem Verbrechen, das sie hinter sich lassen will. Er war damals Zeuge, und die Eltern wollten ihn aus dem Weg haben.

Wie ist heute das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn?

AG: Das Verhältnis zwischen den beiden ist bis zu einem gewissen Punkt nicht schlecht. Ich denke schon, dass sie in regem Austausch miteinander stehen; sie telefonieren, obwohl er meistens beruflich unterwegs und weit weg ist von Rostock.

JE: Evelyn Sonntag hat ein sehr devotes Verhältnis zu Männern und ist überangepasst. Sie hat Angst vor ihrem Mann und benimmt sich ihm gegenüber unterwürfig, und dieses Verhältnis hat sie im Grunde auch zu ihrem Sohn. Henrik vertröstet sie häufig und hält sie hin, aber es gibt nie einen Streit; sie hat sich auch ihm gegenüber immer sehr angepasst. So ist sie zu allen männlichen Personen in ihrem nächsten Umfeld

Die Familie Sonntag ist vor langer Zeit zerbrochen, sie existiert nur noch als Erinnerung, in versprengten Einzelteilen. Wie sind Sie als Darsteller damit umgegangen? Kannten Sie sich vor dem Dreh?

JE: Wir kannten uns nicht, aber wir haben uns vorher einmal getroffen, die Familie. Vater, Mutter und Kind.

AG: Mit dir, Judith, hatte ich nur eine Szene bzw. anderthalb und mit Holger Daemgen, dem Vater Robert, auch nur eine. Darum war es wichtig, sich vor den Dreharbeiten zusammenzusetzen und auszuloten, was man da eigentlich zusammen erzählt. Wir haben uns in Berlin getroffen und über alles gesprochen, was vor dem Punkt, an dem die Handlung einsetzt, passiert ist. Darüber, wie das aussah, nachdem Jessica weg war, wie jeder damit umgegangen ist und wo man jetzt gemeinsam startet.

Die Ermittler interessieren sich bald für das, was vor Jessicas Verschwinden passierte. Es ist klar, dass es gravierende Probleme gab, an den Wänden hängen jedoch Fotos aus glücklichen Tagen und Jessicas altes Zimmer ist unberührt. Lebt die Mutter in einer Traumwelt?

JE: Evelyn Sonntag umgibt sich mit einer besonders starken, bruchsicheren Fassade. Das ist ja ein wiederkehrendes Phänomen. Je größer das Chaos im Inneren ist, desto wichtiger ist Menschen eine äußere Ordnung.

Evelyn Sonntag gibt sich vollkommen unwissend, was den Missbrauch an ihrer Tochter angeht. Warum schweigt sie?

JE: Das Hauptthema ist Verdrängung. Das ist ja ein Mechanismus, der nicht nur bei gravierenden Verbrechen wie Missbrauch auftritt, sondern im Grunde immer, wenn Menschen auf etwas treffen, was sie lieber nicht wissen wollen. Das gibt es auch in harmloseren Fällen. Wie oft behaupten Familien, der Opa sei nicht dement, sondern einfach nur vergesslich, und die mit ihm zusammenlebende Ehefrau dreht fast durch. Was wir nicht schön finden und womit wir nicht umgehen können, wollen wir nicht sehen. Weil wir dann in unsere Verantwortung kämen. Und es ist schwer, für so etwas Verantwortung zu übernehmen. Viele schaffen das nicht.

Sie arbeitet bei der Telefonseelsorge. Woher nimmt sie die Kraft, anderen Ratschläge zu geben, wenn sie ihre eigenen Probleme nicht angehen kann?

JE: Das ist etwas komplett anderes. Das betrifft sie ja nicht selbst. Vielleicht ist sie sogar gut in dem Job, weil sie sich gut einfühlen kann. Mit allem, was sie nicht persönlich betrifft, kann sie umgehen. Und wenn man selbst Schuldgefühle hat, gibt es einem vielleicht eine gewisse Befriedigung, dass man in einem anderen Bereich helfen kann, um das auszugleichen.

In einer traumhaft anmutenden Szene sehen wir, wie Henrik die lange aus seinem Leben verschwundene Schwester wiedersieht. Was passiert bei dieser Begegnung? Was bedeutet sie für ihn?

AG: Es ist eine Rückblende, aus seiner Sicht. Ich habe in der Vorbereitung viel darüber nachgedacht, was in dieser Begegnung auf Fehmarn eigentlich genau passiert ist. Henrik hat vieles bereits geahnt, bevor Jessica es ihm erzählt hat. Aber ihre Erzählung und seine Erlebnisse mit ihr lösen noch einmal unheimlich viel in ihm aus. Ich habe einen großen Teil meiner Motivation aus dem genommen, was bei dem Zusammentreffen der beiden und in ihrer Kommunikation geschehen – oder vielleicht auch schiefgelaufen – sein könnte.

Warum stellt er seine Eltern nicht zur Rede, nachdem Jessica ihm von dem Missbrauch erzählt?

AG: Dazu ist er viel zu sehr mit sich selbst im Unreinen. Außerdem hat er große Angst vor seinem Vater. Das Thema Missbrauch ist sehr schambehaftet, das Wegschauen und Schweigen jedoch folgenschwer. Was ist Ihnen wichtig in diesem Zusammenhang?

JE: Ich habe im engsten Freundeskreis erfahren, wie schwierig der Umgang damit ist. Ich bin jetzt 53, und zwei Freundinnen von mir, die ich schon mehr als mein halbes Leben kenne, erzählen mir jetzt, in diesem Alter, dass sie missbraucht wurden. Als wir darüber sprachen und ich die Formulierung „sexuelle Gewalt“ benutzt habe, ist diese eine Freundin total erschrocken. Es ist niederschmetternd, wie lange es dauert, bis man so etwas aussprechen kann. Und selbst dann dauert es immer noch, bis man es als das benennt, was es ist: als Gewalt, und dass man Opfer wurde. Die Kraft der Verdrängung ist sehr groß, aber sie kann auch überlebenswichtig sein. Man hat ja nicht immer einen guten Therapeuten an seiner Seite, der der Sache gewachsen ist. Verdrängung ist nicht nur schlecht. In dem Fall, den wir hier sehen, aber auf jeden Fall. Hier ist dieses Verhalten fatal.

AG: Ich finde, dieser Film zeigt sehr eindrücklich, wie eine falsche Umgangsweise mit dem Thema Missbrauch in einen Teufelskreis münden kann. Wir sehen hier das allerschlimmste Szenarium, weil es letztendlich alle in den Abgrund reißt

3 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.