Interview mit Maria Furtwängler zum Tatort "Wem Ehre gebührt", Sonntag, 23.12., 20.15 Uhr im Ersten

Das Erste: Akten wälzen statt Verdächtige verfolgen: Kommissarin Lindholm, schwanger im 5. Monat, schiebt im neuen "Tatort" Innendienst im Landeskriminalamt Hannover. Wie bekommt ihr das Büroleben?
Maria Furtwängler: Überhaupt nicht! Es ist ein Desaster. Charlotte Lindholm liebt ihren Beruf, weil sie durch Städte und Dörfer streifen und ihr eigenes Ding machen kann. Es fällt ihr unglaublich schwer, sich jetzt in die Vorgaben der Bürokratie einzuordnen und Teamfähigkeit zu beweisen. Mit Rückendeckung ihres Chefs hat sie bisher geradezu selbstherrlich ermittelt. Der neue Chef sieht das anders. Für meine Kommissarin allerdings ist es absolut unerträglich, sich wegen ihrer Schwangerschaft so einzuschränken.

Umso mehr genießt sie vermutlich das kommende Mutterglück, oder?
Schön wäre es. Doch ihre Beziehung zur eigenen Schwangerschaft ist zumindest in dieser Phase nicht ungetrübt. Zwar hat sich die Kommissarin bewusst für das Kind entschieden – doch gerade als Schwangere spürt sie jetzt umso deutlicher ihre Einsamkeit. Ihr wird klar, dass sie keinen Mann an ihrer Seite hat außer ihrem lieben, lieben Mitbewohner Martin. Doch Martin kann den Vater des Kindes nicht ersetzen.

Lindholms männliche Kollegen, speziell der neue Staatsanwalt Stefan Bitomsky und ihr deutsch-türkischer LKA-Kollege Attila Aslan, halten sie rigoros vom Außendienst fern und verweisen auf die Vorschriften zum Mutterschutz. Ist die scheinbare Fürsorge in Wahrheit ein verdeckter Angriff der Männerriege gegen die weibliche Konkurrenz?
Ja, die Herren der Schöpfung nutzen auf sehr problematische Weise diese Schwangerschaft, um meine Kommissarin zu kontrollieren und in den Griff zu kriegen. Ohne Schwangerschaft würde sie sich garantiert im LKA durchsetzen und es belastet sie, dass sie nicht die Freiheit und Chuzpe entwickeln kann, die sie sonst hätte.

Ist heuchlerische Überfürsorge die schlimmste Form der Diskriminierung gegen Frauen?
Ich glaube schon, dass manchmal Männer die Macht der Frauen, Kinder gebären zu können, bedrohlich finden – und deshalb versuchen, schwangere Frauen in die Schranken zu weisen.

Die Männer vom LKA ermitteln in deutsch-türkischen Kreisen gegen eine Bande, die Raubkopien von brandneuen Computerspielen vertreibt. Wie gelingt es Lindholm bei dieser Sachlage, ihren Aktenbergen zu entkommen?
Charlotte Lindholm will ran an den Fall, ran an die Menschen, und sie versucht alles, um dem Bürodienst zu entwischen. Ihre Befähigung zur ordentlichen Aktenführung ist sehr begrenzt. Sie nutzt die Chance, zu einem Tatort zu eilen, als ihre "Bewacher" gerade nicht im Haus sind. Dort hat man nun ausgerechnet die Leiche eines deutsch-türkischen Mädchens gefunden, mit dem sie kurz zuvor auf der Straße zusammengeprallt war. Das Mädchen hatte einen heftigen Streit mit einem Mann und für Lindholm ist sehr schnell klar, dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist.

Anschließend gibt es natürlich Ärger für Lindholm: Der neue Vorgesetzte Bitomsky verwarnt sie, Kollege Aslan versucht, sie auszubremsen. Wie wehrt sich Lindholm gegen das Macho-Gehabe?
Sie zeigt ihren männlichen Kollegen, dass sie sich nicht beirren lässt. Doch ihr Selbstbewusstsein ist diesmal nicht so stark, wie sie es erscheinen lassen will. So wie ich die Rolle hier spiele, versuche ich zu verdeutlichen, dass die Angriffe der Männer sie stärker aus der Bahn werfen und irritieren als bisher. Bedingt durch ihre Schwangerschaft ist Charlotte Lindholm jetzt angreifbarer und schwächer als bisher. Deshalb kann sie das heranwachsende Leben überhaupt nicht genießen. Stattdessen konzentriert sie sich um so mehr auf ihren Fall. Denn ihr kriminalistischer Instinkt, ihr Bewusstsein, dass sie und nur sie diesen Fall lösen kann und muss, ist auch der schwangeren Charlotte Lindholm nicht verloren gegangen.

Als Lindholms deutsch-türkischen LKA-Kollegen Attila Aslan erleben wir in diesem "Tatort" Mehmet Kurtulus. Wussten Sie beim Dreh schon, dass er Nachfolger von Robert Atzorn beim Hamburger "Tatort" wird – und damit Ihr Konkurrent beim Wettstreit um die Gunst des Publikums?
Nein. Die Fernsehspiel-Redaktion beim NDR ist gerade durch diesen Gastauftritt auf Mehmet Kurtulus aufmerksam geworden. Ich wünsche ihm viel Glück. Er bringt eine neue, spannende Farbe in den "Tatort". Ich finde die Entscheidung, einen deutsch-türkischen Kommissar zu kreieren, außerordentlich klug. Es ist höchste Zeit dafür – ein schlauer Schachzug von NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze.

Im Gegensatz zu ihren Kollegen glaubt Lindholm nicht daran, dass sich die junge Afife selbst das Leben genommen hat. Ist das der kriminalistische Instinkt, der hier wirksam wird? Oder erliegt sie ihren Vorurteilen?
Ein entscheidender Auslöser dafür, dass Lindholm so vehement an der Selbstmord-Theorie zweifelt, liegt in der persönlichen Begegnung. Lindholm hatte sie zufällig zuvor auf der Straße erlebt und dabei deutlich gespürt, in welcher Stresssituation sich die junge Frau befand. Charlotte Lindholm hat eine extrem vitale, aggressive, heftig reagierende Person erlebt. Es hat für sie einfach nicht gepasst, dass Afife kurz darauf in tiefster Depression Selbstmord begehen würde. Vorurteile mögen am Rande hineinspielen, als Lindholm sich klar für die Mord-Theorie entscheidet, sind aber hier nicht der entscheidende Punkt.

Hier siegen Charlotte Lindholms Beobachtungsgabe, ihre Intuition und ihr kriminalistischer Instinkt, oder?
Im Krimi erzählen wir nun einmal von Kommissaren, die im entscheidenden Moment die richtige Idee haben. Wir erzählen Heldengeschichten, keine Verlierergeschichten – sonst würden Krimis nicht funktionieren.

Die Ermittlungen nach Afifes Tod führen Charlotte Lindholm und die Fernsehzuschauer in den Innenkosmos einer türkischen Familie. Welche Konstellation lernen wir kennen?
Beim Schritt in die Wohnung der Familie Özkan taucht Charlotte Lindholm in eine fremde Welt ein. Ihre Selbstsicherheit und ihr Können beim Verhör nützen ihr nicht, da sie weder die Sprache noch die kulturellen Gepflogenheiten kennt. Indem sie ihre Schuhe an der Türschwelle auszieht, wird ihr auch im symbolischen Sinn der vertraute Boden unter den Füßen weggezogen. Dennoch beißt sie sich fest und gibt nicht auf. Ich finde es richtig, dass die türkischen Dialoge hier nicht übersetzt werden, damit die Zuschauer genau diesen Blick von außen miterleben können, den die Kommissarin hier durchlebt.

War dieser Film für Sie persönlich ebenfalls eine Entdeckungsreise, hinein in die Welt unbekannter Parallelgesellschaften im eigenen Land?
Als die Dreharbeiten begannen, kannte ich so gut wie keine Türken oder Deutsch-Türken. Eine private Istanbul-Reise hat mich dieser Welt jetzt ein Stück weit näher gebracht. Den Einstieg haben mir die deutsch-türkischen Darsteller wie Hilmi Sözer oder Meral Perin ermöglicht, die in diesem "Tatort" mitgespielt haben.

Zu welcher Einschätzung sind Sie gekommen?
Im Grunde haben wir Deutschen ein großes Kommunikationsproblem. Es ist uns nicht gelungen, eine große Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund an unserem Bildungssystem teilhaben zu lassen. Dass sich ein Teil nicht integrieren will, kann keine Entschuldigung dafür sein, dass wir bisher zu wenig für die Integration getan haben. Für mich war es sehr spannend, mit diesen Kollegen, zu denen es überhaupt keine Kommunikations-Hemmschwellen gab, zu arbeiten und sich bei den Dreharbeiten mit ihnen über ihre Sicht der Dinge zu unterhalten. Für mich ist dieser "Tatort" schon ein kleiner Einführungskurs in die türkische Welt – eine Welt, die uns zum Greifen nah ist und doch fremder nicht sein könnte.

Menschen mit Migrationshintergrund spielen in unserer Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle ...
... denn 4,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind, wachsen hier in Deutschland auf. In vielen Städten wird es in Kürze mehr Kinder mit als ohne Migrationshintergrund geben. Und laut einer neueren Studie haben 40 Prozent der Schulabgänger mit Migrationshintergrund in Deutschland so schlechte Mathe-Kenntnisse, dass sie in unserer Arbeitswelt keine Chance haben werden. Das sind erschreckende Zahlen, aber wirklich ernst genommen wird dieses Problem bei uns nicht.

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